Mia, die Füchsin
Hinter Hausen im Tal, ein Stückchen den "Fall" hinauf, lebte eine Fuchsfamilie. Klaus, der alte Fuchs, hatte, wie die meisten männlichen Füchse, drei Gefährtinnen - Lia, Pia und Mia. Mit ihnen paarte er sich jedes Jahr im Januar oder Februar. Im Frühling brachten Lia und Pia jeweils drei bis vier niedliche Junge zur Welt. Doch was war mit Mia, der dritten Füchsin? Ihr blieben die Nachkommen versagt.
So geschah es, dass Lia und Pia ihre anfangs noch blinden und hilflosen Jungen versorgten, Klaus auf Mäusejagd ging und Mia sich überflüssig fühlte. Im Laufe des Sommers wurden die Fuchswelpen größer. Bald verließen sie tagsüber mit ihren Müttern den Bau, um in der Sonne zu spielen. Manchmal ließ Mia sich von der Unbeschwertheit der jungen Füchse anstecken und balgte mit ihnen fröhlich herum. Spätestens, wenn die müden Jungen sich an ihre Mütter kuschelten, um ein wenig zu dösen, bedauerte Mia, selbst keine Welpen zu haben.
In einer lauen Sommernacht kam Mia von der Jagd aus dem Wald zurück. Sie war weit gelaufen. Mia freute sich auf die gemütliche Sandkuhle vor dem Bau, im Schatten des großen Haselnussbusches. Dort wollte sie den Tag verschlafen. Um schneller beim Bau zu sein, nahm Mia die Abkürzung am Rande des Dorfes entlang. Ihr Weg führte sie direkt am Grundstück einer jungen Menschenfamilie vorbei. Die Blumenwiese hinter dem Haus reichte bis an den Waldrand. Alles war ruhig, die Menschen schliefen um diese Zeit tief und fest. Mia blieb stehen und sah zu dem Haus hinüber. Auf der Terrasse hatte sie schon einmal ein Stück kaltes Fleisch gefunden, das einem der Kinder der Familie unter den Tisch gefallen war. In der Hoffnung, auch heute wieder einen Leckerbissen zu entdecken, schlich Mia näher. Die Blumen wuchsen so hoch, dass sie Mia Deckung gaben, für den Fall, dass doch einer der Menschen auftauchen sollte. Prüfend sog Mia die Luft ein und witterte in Richtung Haus. Noch lag kein Fleischgeruch in der Luft und doch ...
Ein anderer Duft stieg ihr in die Nase. Die Füchsin blieb stehen und versuchte einzuordnen, was sie wahrnahm. Mia witterte etwas Tierisches, jedoch kein verlockendes, blutiges Aroma frischen Fleisches. Nein, es war gar kein Fleisch, trotzdem eindeutig Tier. Und Mensch? Mia schwankte zwischen Verwirrung und Neugier. Sollte sie flüchten oder nachsehen? Die Neugier siegte. Die Füchsin duckte sich noch ein wenig tiefer in die Blumenwiese und schlich näher. Sie wusste, sie konnte sich in erster Linie auf ihren Geruchssinn, dann auf ihr Gehör und zuletzt auf ihre Augen verlassen. Im nächsten Moment vergaß sie dieses Wissen, ließ Gehör und Geruch außer Acht und starrte wie gebannt auf die Bretter der Terrasse. Dort, wo die Menschen in ihren Bau hineingingen, leuchteten zwei kleine, rötliche Dinger im fahlen Mondlicht. Mia wollte einfach glauben, dass es zwei Fuchswelpen waren, wie ihre Augen ihr vorgaukelten. Mit einem eleganten Satz landete sie auf der Terrasse und packte eines der beiden roten Wesen vorsichtig mit ihrem bereits im Sprung geöffneten Maul. Wie ein Poing-pong-Ball nutzte die Füchsin den Schwung des Ansprungs, drehte sich in der Luft herum und war sofort wieder in der Deckung der Blumenwiese verschwunden.
Vorsichtig und stolz zugleich trug Mia ihre Beute im Maul, als sie sich dem Fuchsbau näherte. Der Morgen dämmerte bereits, Pia und Lia saßen mit ihren Jungen in der Sandkuhle vor dem Bau und warteten auf Klaus. Mia huschte an ihnen vorbei und verkroch sie tief unten im Fuchsbau in einer Höhle, die früher der Dachs bewohnt hatte. Langsam setzte die Füchsin ihre Beute ab. Sie beschnüffelte ihren Fund von allen Seiten und fand den ersten Eindruck bestätig. Es roch nach Tier und Mensch. Nicht nach Fuchs. Noch nicht ... Liebevoll begann die Füchsin, ihre Beute abzulecken. Wieder und wieder, von allen Seiten, bis ihr eigener Geruch begann, die fremde Ausdünstung zu überdecken. Ich nenne dich Max, dachte sie. Dann rollte sie sich zufrieden zusammen, fast wie eine Kugel, mit Max in ihrer Mitte.
In den nächsten Tagen behandelte Mia ihren Max wie andere Füchsinnen ihre frisch geborenen Welpen. Sie leckte ihn, trug ihn umher und bewachte ihn eifersüchtig vor den anderen Füchsen. Niemand durfte ihm zu nahe kommen. Das ging fast einen Monat so, dann wurde Mia unruhig. Normalerweise verlassen Fuchswelpen im Alter von drei bis vier Wochen erstmals den Bau, um draußen zu spielen. Max wollte nicht nach draußen und er sah auch nicht aus, als ob er spielen wollte. So machte sich Mia eines Nachts erneut auf den Weg zum Dorf, schlich am Rande der Gärten entlang, alle Sinne geschärft auf der Suche nach einer bestimmten Beute. Dieses Mal kehrte sie mit einem größeren, dunkleren Etwas zurück. Lange Schnüre hingen an den Seiten herunter und tanzten im Rhythmus von Mias Schritten, während sie glücklich dem Fuchsbau zueilte. Pax, wie sie ihn nannte, wurde genau wie zuvor Max einen Monat lang von Mia liebevoll umsorgt. Dann legte die Füchsin Pax zu Max in eine kleine Seitenhöhle und lief des Nachts wiederum ins Dorf. Bald schon kehrte sie mit Ela zurück. Ela war anders als Max und Pax. Ihr Körperbau war schlank und elegant geschwungen.
Von nun an hatte Mia eine Aufgabe. Alle vier Wochen holte sie sich einen der Schuhe, die von den Dorfbewohnern draußen auf der Terrasse, im Garten oder vor der Haustür stehen gelassen worden waren. Die Füchsin war nicht wählerisch. Egal, ob roter Kinderstiefel, schwarzer Herrenschuh, eleganter Damenpumps oder schlammverkrusteter Joggingschuh - bei Mia bekam jeder Schuh seine Chance auf ein neues Leben im Fuchsbau. Jedoch holte Mia immer nur einen Schuh pro Paar, als wollte sie gerecht mit den Menschen teilen. Wann Mia das letzte Mal auf Beutezug war, fragst du? Das dürfte jetzt ungefähr einen Monat her sein ...
©Jo Jansen 2016 Auszug aus dem Buch mit dem Arbeitstitel "Donautalgeschichten"
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