Liegewagen 5+1
Die untergehende Sonne tauchte Berlin in goldenes Licht. Durch das Fenster des Zuges sah ich hinaus auf den Bahnsteig. Die gläserne Kuppel des Hauptbahnhofs ließ das Sonnenlicht ungehindert hindurch, und so glänzte der Bahnsteig ebenso golden wie die Stadt. Noch war ich allein im Sechser-Abteil des Liegewagens und hegte die stille Hoffnung, dass dies so bleiben möge. Wenigstens von Berlin bis Augsburg, dem Ziel meiner Reise. Meine Handtasche hatte ich bereits auf die Pritsche ganz oben rechts geworfen. Darin befand sich unter anderem ein dickes Buch, das ich im gemütlichen Schein der Lampe über meiner Liege zu lesen gedachte. Die letzten Tage waren hektisch gewesen. Ich hatte eine Gruppe Japanerinnen auf ihrer Reise zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Deutschlands begleitet. Um so mehr freute ich mich auf eine entspannte Fahrt mit dem Nachtzug, der mich quasi im Schlaf an mein Ziel bringen würde. Plötzlich hörte ich draußen vom Gang Gelächter und Gerangel. Zwei rothaarige junge Männer mit Rucksäcken schubsten sich gegenseitig ins Abteil. Sie verstummten abrupt, als sie mich erblickten. Nachdem klar war, dass wir die Nacht gemeinsam in diesem Abteil verbringen würden, wurden sie ausgesprochen höflich. Sie gaben mir die Hand und stellten sich mit Namen vor. Pat und Jack waren Studenten aus Schottland, auf dem Weg nach Italien. Immer wieder kicherten sie und warfen einander verlegene Blicke zu. Sie hatten sicher nicht erwartet, mit einer Frau, die etwa so alt war, wie sie beide zusammen, gemeinsam ein Abteil des Liegewagens zu belegen. Pat und Jack schoben ihre Rucksäcke unter die beiden untersten Pritschen und begannen sofort, Laken und Decken ordentlich auszubreiten, als wollten sie im nächsten Moment darunter verschwinden. Entweder waren sie tatsächlich sehr müde, oder sie versuchten, ihre andauernde Verlegenheit durch sinnvolle Tätigkeit zu überspielen.
Erleichterung machte sich auf den Gesichtern der beiden Studenten breit, als ein weiterer Gast sich zu uns gesellte. Dieser Mann war etwas älter als ich. Er trug die grauen, leicht gewellten Haare fast schulterlang, was ihm den Habitus eines Künstlers verlieh. Sein Blick war freundlich, er sprach langsam und wählte seine Worte sorgsam. Auch er stellte sich kurz vor, allerdings ohne jemandem im Abteil die Hand zu schütteln. Fast bedauerte ich dies, nachdem ich einen verstohlenen Blick auf seine schlanken gepflegten Hände geworfen hatte. Friedrich war Musiklehrer und auf dem Heimweg nach Salzburg. Der Zug fuhr mit einem leisen Rucken an. Pat und Jack verschwanden in Richtung Restaurantwagen. Friedrich und ich traten hinaus auf den Gang. Wir sahen stumm aus dem Fenster und hingen jeder unseren Gedanken nach. Ich sah Berlin vorüberziehen und spürte leise Wehmut, dass ich dieses Mal nur so wenig Zeit für diese liebenswerte Stadt gehabt hatte.
"Abschiede tun weh." Der Musiklehrer sprach leise, fast wie zu sich selbst. "Auch wenn man sich sehr aufs Ankommen freut."
Ich lächelte, denn er hatte recht.
"Sie reisen ohne Gepäck?", wunderte sich Friedrich.
Ich erzählte, dass ich heute eine Gruppe Japanerinnen nach Berlin begleitet hatte und nun auf dem Weg nach Hause war. Und dass ich Schriftstellerin sei und hoffe, im Zug ein paar Puzzlesteine für eine meiner nächsten Geschichten zu finden. Friedrich wollte wissen, was ich schon geschrieben habe. Er betonte, dass er und seine Frau Bücher über alles liebten und Rebecca sogar als Bibliothekarin in Salzburg arbeite.
Mir verschlug es fast die Sprache. Bisher kannte ich nur einen einzigen Menschen in Salzburg. Rebecca, Bibliothekarin, der ich vor zwei Jahren in einem Bücherhotel in Mecklenburg begegnet war. Seither standen wir lose in Kontakt, schrieben uns ab und zu und telefonierten sehr selten. Ich wusste, dass sie verheiratet war. Etwa mit Friedrich, den das Schicksal in Form des Buchungssystems der Deutschen Bahn in das gleiche Nachtzugabteil wie mich geführt hatte?
Vorsichtig fragte ich nach: "Heißt Ihre Frau Rebecca Engelmann?"
Jetzt war es an Friedrich, in Sprachlosigkeit zu erstarren. Er blickte mich an, als wäre ich ihm plötzlich unheimlich geworden.
"Sie kennen meine Frau?"
Wenn das kein Zufall war! Wir beschlossen spontan, unser Gespräch im Restaurantwaggon bei einem Glas Rotwein fortzusetzen. Der Schaffner, dem wir auf dem Weg dorthin begegneten, informierte uns nach einem Blick auf unsere Fahrkarten, dass ab Magdeburg noch zwei weitere Herren in unserem Abteil mitreisen würden..
Wir fanden einen freien Tisch im Restaurant und bekamen umgehend jeder unser Glas Wein.
"Zum Wohl", sagte Friedrich und seine Augen leuchteten.
"Zum Wohl! Und auf den Zufall, der in der Bahn mitfährt", ergänzte ich lachend. Wir plauderten zwanglos. Dabei gingen wir ganz selbstverständlich zum "Du" über und unterhielten uns hauptsächlich über Bücher, aber auch über Rebeccas und meine Arbeit. Draußen war es inzwischen völlig dunkel geworden. Nur ab und zu, wenn wir an einer kleinen Ortschaft vorbeifuhren, huschten Fenster wie gelblich leuchtende Augen vorbei. Ich stellte mir vor, dass dort Menschen ebenso in gute Gespräche vertieft waren wie Friedrich und ich. Aus ihrer Perspektive musste unser Zug aussehen wie ein langer, leuchtender Pfeil, der durch die Nacht schoss. Wer weiß, welche sehnsuchtsvollen Wünsche die Menschen in den Häusern uns hinterher schickten? Träumten wir nicht alle immer wieder vom Reisen und vom Ankommen an einem schönen Ort? Friedrich lächelte, als ich ihn meine Gedanken wissen ließ.
"Das ganze Leben ist eine Reise", sagte er und sah dabei sehr weise aus. Ich lachte.
"Ja, aber ohne Fahrplan. Du weißt nie, was dich an der nächsten Station erwartet."
"Oder wer", fügte Friedrich hinzu.
Wir beließen es bei dem einen Glas Wein. Friedrich hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und war müde.
Bei der Rückkehr ins Abteil fanden wir Pat und Jack schlafend vor. Sie hatten sich in ihre Decken eingehüllt und sahen aus wie kleine unschuldige Kinder. Wir kletterten jeweils nach ganz oben, Friedrich auf die linke, ich auf die rechte Seite des Abteils. Wenig später verrieten die gleichmäßigen Atemzüge von gegenüber, dass ich als Einzige im Raum noch wach lag. Ich kuschelte mich in meine Decke und öffnete im Schein der Leselampe über meiner Pritsche das mitgebrachte Buch. Das leise, kaum spürbare Rattern des Zuges schenkte mir ein Gefühl der Geborgenheit. Gab es eine entspanntere Art zu reisen? Viele Seiten später löschte ich das Licht und glitt in einen wunderbaren Schlaf hinüber. Erst der Weckruf über den Bordlautsprecher am nächsten Morgen ließ mich in die Realität zurückkehren. Friedrich rieb sich verschlafen die Augen und flüsterte:
"Guten Morgen."
Ein Blick nach unten zeigte mir, dass auch die beiden mittleren Pritschen belegt waren, wie der Schaffner vorausgesagt hatte. Die zwei lockigen, bärtigen Gestalten hatten ihre Decken fast bis an die Ohren hochgezogen und schliefen unbeeindruckt weiter. Vom Zustieg der Männer in Magdeburg hatte ich nichts bemerkt. Anscheinend fuhren sie bis München weiter, genau wie Friedrich und die beiden schottischen Studenten, die ebenfalls noch tief unter ihren Decken versteckt schlummerten. Ich fühlte mich wunderbar ausgeruht und freute mich auf zu Hause. So tief und gut hatte ich lange nicht mehr geschlafen. Leise, um die Anderen nicht zu wecken, suchte ich meine Sachen zusammen und verabschiedete mich von Friedrich. Natürlich gab ich ihm ganz liebe Grüße an seine Frau mit auf die weitere Reise, bevor ich in Augsburg den Zug verließ und hinaustrat in einen sonnigen Morgen.
Am Abend klingelte mein Telefon. Eine österreichische Nummer. Rebecca lachte schon bei der Begrüßung. Sie betonte immer wieder, was für ein witziger Zufall es doch sei, dass ihr Mann und ich im selben Liegewagenabteil gereist seien. Wir witzelten und kicherten herum, über das Reisen im Allgemeinen, über Männer und insbesondere über Ehemänner. Irgendwann sagte ich:
"Was ich überhaupt nicht gedacht hätte: Da fahre ich mit fünf Männern gemeinsam in einem Abteil und schlafe wie ein Baby. Keiner von ihnen hat geschnarcht."
Warum Rebecca diese Aussage so erheiterte, dass sie vor Lachen zunächst gar nicht sprechen konnte, erfuhr ich wenig später, als sie wieder zu Atem kam.
"Ja", sagte sie, "das hat Friedrich auch erzählt. Keiner der Männer hat geschnarcht. Dafür du um so mehr."
©Jo Jansen 2015
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