Montag, 17. Februar 2014

Der Brillenbaum

Es war einmal ein Dorf, in dessen Zentrum ein riesiger alter Baum stand. Seine Äste ragten bis in den Himmel. Große Luftwurzeln hingen herab und berührten die Erde. Der Baum war den Menschen heilig. Er schützte sie vor der sengenden Sonne. In seinem Schatten ruhten sie und fühlten sich hinterher entspannt und erfrischt. Aus seinen Luftwurzeln fertigten sie kunstvolle Brillengestelle. Diese bestückten sie mit farbigen Gläsern, die in den Familien von Generation zu Generation weiter gegeben wurden und trugen sie zum Schutz ihrer Augen vor der gleißenden Sonne.

»Sieh nie ohne Brille in die Welt!«, ermahnten die Menschen ihre Kinder. »Du würdest blind.« Ohne Brille glaubten sie sich verloren. Daher setzten sie diese selbst im Schatten des Baumes und in der Nacht nicht ab. 

Jede Familie besaß einmalige Brillengläser einer bestimmten Farbe. Die einen rote, die anderen blaue, die nächsten gelbe, wieder andere orange und so weiter. 

»Der Baum ist rot.«, sagten die Menschen, die rote Brillengläser trugen.
»Nein, der Baum ist blau«, widersprach die Familie der Blauen.
»Ihr irrt, der Baum ist gelb.« Milde lächelnd schüttelten die Gelben den Kopf.
»Ach, Ihr Narren! Seht Ihr denn nicht, dass der Baum orange ist?«, ereiferten sich die Orangen.

Von nun an diskutierten sie jedes Mal, wenn sie im Schatten des Baumes zusammensaßen. An Erfrischung oder Entspannung war nicht mehr zu denken, so sehr stritten sich. Wenn sie nicht unter dem Baum zusammensaßen, begannen die einzelnen Familien einander zu meiden. 
»Spielt nicht mit den Blauen, sie sind dumm«, wies die rote Mutter ihre Kinder an.
»Haltet Euch von den Orangen fern, sie neigen zur Gewalt«, trugen die gelben Eltern ihren Sprösslingen auf.  

In jeder Familie wuchsen der Stolz und das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein. Als Einzige die Wahrheit zu kennen. 
»Welch Glück, dass unsere Ahnen uns die richtigen Brillengläser vererbten.« 

Eines Tages geschah es, dass nach einem Unwetter die Steppe brannte und eine riesige Feuerwalze auf das Dorf und den Baum zuraste. 
»Wir müssen den Baum retten, sonst sind wir alle verloren!« Die Dorfbewohner griffen nach Spaten und Hacken und begannen in Windeseile eine Feuerschneise in den Boden zu graben. Von der Angst getrieben, ihren heiligen Baum zu verlieren, gaben alle ihr Möglichstes. Sie gruben und hackten. Selbst die kleinen Kinder schaufelten mit ihren Schipppchen. Immer wieder  warfen die Menschen ängstliche Blicke auf die heranrasende Feuerwalze. Würden sie es rechtzeitig schaffen? Der beißende Qualm des Flammenmeers erschwerte ihnen das Atmen. Der Ruß des Feuers ließ sich auf ihren Brillengläsern nieder, bis sie trüb und undurchsichtig waren.
»Wir müssen unseren Baum retten!«
»Ich kann nichts mehr sehen!« 
»Ist unser heiliger Baum noch da?«
So schrien sie aufgeregt durcheinander. 
»Nehmt Eure Brillen ab«, rief ein kleines Mädchen, »dann könnt ihr wieder sehen.«
In ihrer Verzweiflung taten sie es. Sie gruben mit neuem Mut und das Wunder geschah - die Schneise wurde rechtzeitig fertig.  Das Feuer konnte Dorf und Baum nicht erreichen. 

Glücklich und erschöpft versammelten sich die Menschen unter ihrem heiligen Baum, um ihm zu danken. Doch was war das?
»Der Baum hat ja bunte Blätter!«, riefen sie. 
»Seht nur - rote Blätter. Und blaue, gelbe, orange, grüne, violette ...«
»Wie wunderschön!« staunten sie.
Zum ersten Mal seit Langem saßen sie friedlich miteinander unter dem Baum und gingen später erfrischt und entspannt nach Hause. 

Am nächsten Morgen suchten sie die Brillen, die sie in der Eile des Kampfes gegen das Feuer fortgeworfen hatten. Alle sahen gleich aus - schwarz vor Ruß. So nahm jeder Dorfbewohner die erstbeste Brille, putzte sie vorsichtig und sah gespannt hindurch. 
»Interessant, einmal alles gelb zu sehen«, meinten die Einen.
»Wie lustig die Welt in Blau aussieht«, lachten andere.

Von diesem Tag an trafen sie sich jeden Abend unter dem Baum, nahmen ihre Brillen ab und tauschten sie mit dem Nachbarn. Jeder verstaute die ihm gereichte Brille vorsichtig in seiner Tasche, wo sie bis zum Sonnenaufgang am nächsten Tages blieb. 

Solange aber erfreuten sich die Dorfbewohner an der bunten Blättervielfalt ihres Baumes. 
© Jo Jansen 2014