Donnerstag, 21. Juni 2012

Dumm Tüch

Der Nachbar ging mit seinem Spaten,
um Mitternacht raus in den Garten.
Seine Frau ward seitdem
nicht mehr gesehen.
Und er? Scheint nicht auf sie zu warten!

Dienstag, 19. Juni 2012

Der Duft des Sommers

Kannst Du ihn riechen, den Sommer? Er riecht, nein, er duftet herrlich. 


Völlig anders als der Winter, der nach Schnee und Kaminrauch riecht. Manchmal auch nach Glühwein und Tannennadeln. 


Auch anders als der Frühling, der uns mit Primelduft, bienenumschwärmten, süss riechenden Baumblüten und dem wunderbaren Aroma der ersten frisch gemähten Wiese erfreut.


Der Herbst riecht ebenfalls anders als der Sommer. Er trägt das herbe Aroma welken Laubs im Haar und bringt den schweren Duft überreifer Beeren und Pflaumen mit.


Der Sommer duftet nach Blumen, Erdbeeren, blühenden Ginsterbüschen. Nach Grillwürstchen, Sonnenmilch und salzigem Meerwasser. Ganz besonders liebe ich den frischen Duft eines warmen Sommerregens und den leicht moderigen Geruch unseres Weihers oder eines kleinen Mecklenburger Sees.


Und unser Hund? Der hat angeblich einen hundertmal besseren Geruchssinn als wir. Wie mag dann für ihn der Sommer riechen? Erfreut er sich an den Duftspuren, die meine nackten Füsse auf der Wiese hinterlassen? Schmeckt er einen zarten Hauch von Erdbeereis im Himmel über der Stadt, durch die wir laufen? Entströmt meiner Handtasche noch ein Rest Ferienhausluft, während ich meine Schlüssel darin suche? Erschnuppert er gar den Kuss auf meinen Lippen, den der Liebste mir gestern gab?


Oder riecht die ganze Welt nach Katze?

Blühender Ginsterbusch bei Castelnou (Südfrankreich)

Samstag, 2. Juni 2012

Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann?



Tag 1

Carla winkte ihm nach, doch er sah sich nicht um. Es wäre ihm sicher peinlich vor seinen Freunden, dachte sie und ein wenig tat er ihr leid. Er sollte sich wegen seiner Mutter nicht schämen.

Beim Frühstück hatte der Achtzehnjährige kein Wort geredet, er sprach auch sonst nicht viel mit ihr. Hatte stumm seinen Kaffee aus der geblümten Tasse getrunken, schweigend die belegten Brote genommen, die sie ihm bereitet hatte und wortlos die Brotdose in seinem Rucksack verstaut, der nur locker gefüllt schien, obwohl er sicher alles enthielt, was ihr Sohn für knapp drei Tage Zelten benötigte. Als sie ihm zum Abschied eine schöne Zeit wünschte, hatte er nur „Tschüss“ gemurmelt und war mit einem großen Schritt die zwei Stufen hinab gesprungen zu Paul, Erik und Peter, die vor der Haustür auf ihn warteten. Und mit ihnen ein herrlicher Morgen, voller Sonnenschein, Vogelgezwitscher und duftenden Blumenbeeten vor jedem einzelnen Haus ihrer Straße.

Mark, ihr kleiner Junge, wie sie ihren einzigen Sohn im Stillen immer noch nannte, war ihr irgendwann entglitten. Wenn er zu Hause war, schloss er sich meist in seinem Zimmer ein. Dort war sein heiliges Reich, das sie nicht betreten durfte. Vorbei war die Zeit, als munteres Kinderlachen, aus der stets offenen Tür, durchs ganze Haus geschallt war. Stattdessen vibrierten manchmal die Wände vom Gedröhne der Bässe und drangen kreischende Musikfetzen nach außen, die ihren Ohren wehtaten. Und wie er sich kleidete! Hochgewachsen und schlank, wie er war, mit leicht gewelltem schwarzen Haar, hatten ihm früher einfach alle Farben gut gestanden und ihn frisch und strahlend aussehen lassen. Seit dem Tod seines Vaters trug er nur noch schwarz.

Bestimmt hatte er auch ewig nicht in seinem Zimmer geputzt. Genau in diesem Moment musste Carla lächeln, denn ein Teil von ihr hatte nur darauf gewartet, dass ihr Sohn für ein paar Tage das Haus verließ. Sie strich ihre Kittelschürze glatt. Der zweite Knopf von oben, aus glänzendem Perlmutt, mit Goldrand, begann sich zu lösen. Sie sollte ihn bald festnähen, bevor er von selbst abfiele.

Als sie die Klinke zu Marks Zimmer herunterdrückte, atmete sie erleichtert auf. Er hatte nicht abgeschlossen. So musste sie nicht den Zweitschlüssel benutzen, was dem Ganzen, wie sie fand, ein wenig den Hauch des Verbotenen nahm. Kaum war sie eingetreten, fühlte sie sich wie in eine fremde Welt versetzt. Die Rollos waren heruntergelassen, und es roch muffig, dumpf und irgendwie nach alter Erde. Sie zog die Jalousien hoch und öffnete mit Schwung beide Fenster. Tief atmete sie die frische Luft dieses Sommermorgens ein, die nun hereinströmte. Sonnenkringel tanzten über den Boden, ein lustiger Reigen, der sie wieder an die Zeit erinnerte, als dies noch ein Kinderzimmer gewesen war.

Nun blickte Carla statt auf lächelnd bunte Disney-Poster in grimmig verzerrte Fratzen, die sie schwarz und düster von den Wänden anstarrten. Es waren wohl die Bands, deren Musik er hörte, die ihr unverständliche Namen trugen und welche ihr Lieblingssender nie spielen würde. Kopfschüttelnd ging sie zurück in die Küche, drehte das Radio lauter, sodass es im ganzen Haus zu hören war, und sang voller Inbrunst mit, als Andrea Berg ihr „Du hast mich tausend mal belogen ...“ hinaus in den Sommertag schmetterte.

Bewaffnet mit einer ganzen Batterie Reinigungsmittel, Lappen und einem Eimer heißen Wassers, kam sie zurück in das Zimmer und begann ihr Werk. Zunächst putzte sie die Fenster. Mark würde es nicht bemerken, da er eigentlich immer die Rollos geschlossen hielt. Dann staubte sie die Regale ab, was schnell erledigt war, denn dort stand nichts, bis auf ein paar Bücher, die ihr ähnlich gruselig erschienen, wie die Poster an der Wand. Den großen Wandschrank rührte sie nicht an, das wäre ihr wirklich wie Frevel erschienen. Außerdem war er abgeschlossen und hierfür hatte sie keinen Zweitschlüssel.

So nahm sie sich zum Schluss den Fußboden vor. Der alte Flickenteppich vor dem Bett würde nach einer Intensivbehandlung in der Waschmaschine und anschließendem Trocknen in der Sommersonne, nicht mehr so schrecklich muffig riechen. Das Bett war, wie der Wandschrank, ein Erbe ihres Vaters, der dieses Haus erbaut und mit, wie er fand, so praktischen, fest eingebauten Möbeln versehen hatte. Darum lag sie nun auf dem Bauch, den Staubsauger in der Hand, um auch die letzte Ecke unter dem Bett noch erreichen zu können. Wenn Mark sie so sehen könnte, dachte sie und musste kichern. Im nächsten Moment wurde ihre Aufmerksamkeit gefangen genommen. Da war etwas unter dem Bett, ein dunkles Bündel. Mit dem langen Rohr des Staubsaugers bekam sie es zu fassen und zog es mit solchem Schwung hervor, dass es an ihr vorbei, über die glatten Dielen, bis in die Mitte des Zimmers schlitterte.

Was war das? Es roch, nein es stank fürchterlich. Trotz des geöffneten Fensters dominierte nun ein Geruch von alter Erde den Raum. Im ersten Moment meinte sie, es mit ungewaschenen Kleidungsstücken ihres Sohnes zu tun zu haben. Schwarz, düster, wie alles, was er seit ungefähr drei Jahren trug, als er mit fünfzehn plötzlich beschloss, kein Kind mehr zu sein. Doch würde Mark nicht immer ihr Kind bleiben, egal wie alt er und sie auch werden mochten? Nur handelte es sich hier nicht um seine Kleidung. Es waren grob gewebte alte Lumpen, in Fetzen und Streifen um etwas gehüllt, das wie ein magerer kleiner Körper aussah. Eine Puppe, doch nicht so wie die, mit denen sie früher gespielt hatte. Diese hier hatte keine feinen, hellen Beine, keine wohlgeformten Arme mit winzigen süßen Fingerchen. Stattdessen ragten aus dem stinkenden Lumpenbündel knochige Glieder mit viel zu langen Fingern. Ein dürres Klappergestell, das sehr an ein Skelett erinnerte. Am schlimmsten aber war das Gesicht. Ein böses Auge starrten sie an, die andere Augenhöhle war leer. Unter einer winzigen, knochigen, platten Nase öffnete sich ein irre verzerrter Mund und gab den Blick frei auf eine Vielzahl schiefer, spitzer, kleiner Zähne. Die Lippen waren nur angedeutet, schmal und blutleer. Vor solchen Gestalten hatte sie sich gefürchtet, als sie selbst noch ein Kind war. Aus Albträumen war sie schreiend und schweißgebadet aufgewacht, in denen der „Schwarze Mann“ hinter dunklen Türen auf sie gelauert hatte. Auch jetzt, viele Jahre später, spürte Carla, wie winzige Schauer ihren Rücken hinab liefen.

Egal, welche Bedeutung diese gruselige, stinkende Puppe für ihren Sohn haben mochte, sie würde sie nicht in diesem bald fertig geputzten Zimmer lassen. Doch einfach in den Müll werfen, ging auch nicht. Aus Marks Sicht wäre es schon schlimm genug, dass sie sein Zimmer überhaupt betreten hatte. Da kam ihr die rettende Idee - das Haus hatte einen kleinen Keller! Dort lagerten Kartoffeln, ein paar Flaschen Wein, altes Werkzeug, das ebenfalls bereits ihrem Vater gehört hatte und jede Menge Plunder, von dem sie sich alle paar Jahre trennte und damit auf den Flohmarkt stellte. Zum Glück hatte sie gerade ihre Putzhandschuhe an. So fasste sie diese Ausgeburt einer kranken Fantasie mit spitzen Fingern und trug sie, am ausgestreckten Arm und so weit wie möglich von ihrem Körper entfernt, in den Keller hinab. Auf dem Weg, der ihr viel zu lang vorkam, sah sie ständig den spärlich behaarten Kopf der Puppe vor sich und entdeckte dabei eine Schlaufe, an der diese sich aufhängen ließ. Da alles in ihr danach strebte, dieses widerliche Ding so schnell wie möglich loszuwerden, hängte sie die Figur an den nächstbesten Nagel, der aus dem unverputzten Mauerwerk der Kellerwand hervorstand.

Nachdem sie die Tür geschlossen hatte und die Treppe wieder hinaufstieg, musste sie wieder an ihre kindlichen Albträume denken. Darin hatte genau hinter dieser Kellertür der „Schwarze Mann“ gewohnt, den sie jedoch nie zu sehen bekam, da sie jedes Mal schreiend aus dem Schlaf fuhr, wenn die Tür sich langsam zu öffnen begann.

Carla atmete erleichtert auf, als sie wieder oben im sonnendurchfluteten Raum stand. Die Putzhandschuhe warf sie direkt in den Müll, da ihnen der alte, erdige Geruch anzuhaften schien und sie sich dadurch nicht den strahlenden, duftenden Sommertag verderben lassen wollte. Vom Radio wurde sie gerade mit einer beschwingten Melodie daran erinnert, dass sie nicht immer siebzehn sein könne. Schade, aber das hatte sie selbst im Laufe der letzten Jahrzehnte schon festgestellt. Trotzdem trällerte sie fröhlich mit, und wenig später erstrahlte das Zimmer ihres Sohnes in neuem Glanz.

Wenn sie nun schon dabei war, konnte sie auch gleich den Rest des Hauses ein wenig putzen. Das tat sie eigentlich ständig. Es lag kaum ein Stäubchen auf dem Boden oder den kleinen Schränkchen und Regalen, die mit Nippes gefüllt waren. Ansonsten dominierten im Haus Häkeldeckchen, Unmengen von Häkeldeckchen, fein und filigran gearbeitet, in allen möglichen Mustern, aber immer blütenweiß. Außerdem gehäkelte Gardinen, Kissen und Bettüberwürfe, ebenfalls alle weiß. Ein Erbe ihrer Mutter, das Carla in Ehren hielt. Sie hatte ihre Mutter kaum gekannt, aber wenn sie nicht so jung gestorben wäre, hätte sie wahrscheinlich das ganze Haus eingehäkelt. Woher hatte sie nur die Zeit genommen, mit drei kleinen Kindern? Zum Putzen ist sie wahrscheinlich nie gekommen, dachte Carla und besann sich wieder ihrer Aufgabe. Die gewohnte Routine ließ sie den Schreck um die Puppe schnell vergessen. Außerdem gab diese Tätigkeit ihrem Tag eine Wichtigkeit, eine Bedeutung. Es war ein sinnvolles Tun, nach dem sie sich am Abend nur zu gern entspannen würde.

Später räumte sie die Putzsachen fort und fütterte Minka, die Katze, die ihr dabei leise miauend um die Beine strich. Mit ihr redete sie gern. Zwar antwortete die Katze ihr genau so wenig, wie ihr Sohn, doch blickten ihre grünen Katzenaugen manchmal so allwissend in die Welt, als verstünde sie jedes Wort.

Sie duschte und wärmte sich den Rest Hühnchen vom vergangenen Abend auf. Im Fernsehen lief ein alter Film mit Heinz Rühmann. Für ihn hatte sie schon immer geschwärmt, er war aber auch ein lustiger, charmanter Kerl! So ganz anders, als die Männer in ihrer Familie. Von ihrem Großvater, über ihren Vater bis hin zu ihrem verstorbenen Ehemann, waren sie alle schweigsam und irgendwie humorlos gewesen. Carla konnte sich nicht erinnern, einen von ihnen je singen gehört zu haben, außer am Sonntag in der Kirche. Ihr Sohn würde diese Reihe wohl fortsetzen, leider. Mit diesen Gedanken ging sie zu Bett. Sie war einfach nur müde, hatte heute eben doch mehr getan, als normalerweise. Kaum dass sie unter ihrer weichen Decke lag, fiel sie bereits in einen traumlosen Schlaf. Nur einmal schreckte sie kurz auf, weil anscheinend direkt unter ihrem Fenster ein Kater verliebte Schreie von sich gab, die sie immer an Babygeschrei erinnerten.

Tag 2

Der Morgen versprach einen weiteren strahlenden Sommertag und Carla freute sich auf ihre Einkaufstour zum Wochenmarkt. In dieser Jahreszeit gab es dort das beste Angebot an frischem Gemüse aus der Umgebung. Sie hatte wunderbar geschlafen und fühlte sich frisch und unternehmungslustig. Als sie nach einem ausgiebigen Frühstück ihr Fahrrad aus dem Schuppen holte, bemerkte sie, dass der Sattel sich gelockert hatte und leicht hin und her wackelte. Das passende Werkzeug befand sich im Keller. Beim Öffnen der Kellertür erschrak sie im ersten Moment, denn sie blickte direkt in die irre Fratze der Puppe. Kopfschüttelnd schalt sie sich selbst eine kleine dumme Närrin und drehte die Puppe mit dem Gesicht zur Wand. Dabei fiel ihr Blick auf den Kellerboden und etwas, das gestern ganz sicher noch nicht dort gelegen hatte. Verwundert bückte sie sich und stellte fest, dass es sich dabei wohl um ein paar um Hühnerknochen handelte. Wie kamen die Reste ihres Abendessens hierher? Und lagen da nicht auch ein paar Katzenhaare auf den Knochen? Natürlich hatte sie sofort Minka in Verdacht, doch die würde ihr, wie immer, keine Antwort geben. So räumte sie seufzend die Knochen fort und klinkte die Kellertür sorgfältig wieder ein, damit die Katze sie nicht noch einmal öffnen konnte.

Das Fahrrad war schnell repariert. Carla verbrachte den Tag äußerst angenehm mit Einkaufen und Putzen, bevor sie am späten Nachmittag mit den Vorbereitungen für das Abendessen begann. Heute Abend kam ihre Schwester Johanna zu Besuch. Das war jede Woche eine willkommene Abwechslung. Sie würden sich gemeinsam im Fernsehen eine Quizsendung ansehen, ein Schlückchen Wein trinken und über Belanglosigkeiten plaudern. Vorher stellte sie noch schnell das Futter für die Katze hin, die ganz entgegen ihrer Gewohnheit noch nicht wieder ins Haus gekommen war. Bestimmt hatte der liebestolle Kater ihr den Kopf verdreht. Nun, sie würde schon wieder zur Vernunft kommen und hungrig den Weg nach Hause finden.

Johanna hatte ihr Auto in der Nebenstraße geparkt, direkt unter der großen Kastanie. Sie behauptete immer, das sei ihr persönlicher Parkplatz, weil sie als Kind das damals kleine Bäumchen in einem heißen Sommer fleißig begossen hatte. Nun ja, ihre Schwester hatte sich schon immer für Pflanzen interessiert, kannte die meisten Blumen mit Namen und kleidete sich stets farbenfroh wie ein Primelbeet im Frühling. Sie kam auch heute wieder mit einer Unzahl verschiedenfarbiger Tücher um den Kopf und in einem fürchterlich bunten Gewand, von dem sie behauptete, es sei indisch. Carla fand es eher kindisch. Genau wie die Geschenke ihrer Schwester. Jede Woche brachte sie ihr etwas anders Unnützes mit, das meist im Keller verschwand und auf den nächsten Flohmarkt wartete. Heute zog Johanna ein winziges, grellbuntes Windlicht aus einer der unzähligen Taschen ihres Gewandes und drückte es der Schwester in die Hand. Carla heuchelte kurz Dankbarkeit, bevor sie das Geschenk achtlos auf das Telefontischchen im Flur stellte.

Nachdem sie gemeinsam zum Abendessen einen gesunden Gemüseauflauf restlos verspeist hatten, machten die beiden Schwestern es sich auf der Couch gemütlich. Natürlich wusste Johanna bei der Quizsendung wieder alles besser. Carla ärgerte sich im Stillen darüber, hatte sich aber schon früh daran gewöhnt, dass ihre Schwester klüger war als sie. Doch was nützte es ihr? Die Million würde sie mit ihrem Wissen auch nicht gewinnen, hier vom Sofa aus. Wie um diese negativen Gedanken zu verscheuchen, schenkte sie sich und auch Johanna immer wieder von dem süßen Wein nach, den sie beide so gern tranken. So wurde der Abend langsam lustiger und das Gespräch belangloser.

Als sie zu Bett gingen, stöhnte Johanna, weil ihr einfiel, dass sie am Morgen sehr früh aufstehen musste, um von hier ins Büro zu fahren. Carla kicherte nur und fühlte sich wieder zurückversetzt in alte Zeiten. Genau wie damals lagen die beiden Schwestern nebeneinander im großen Ehebett. Dort hatten sie als kleine Mädchen immer schlafen dürfen. Ihr Vater schlief währenddessen im Gästezimmer. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte er seine drei Kinder allein großgezogen und nie wieder geheiratet.

Carla schlief unruhig, träumte wirre Träume von Katzen in bunten Gewändern, die bei einer Quizshow alle Fragen richtig beantworten konnten und dann plötzlich anfingen, Mäuse in die Luft zu werfen. Die Mäuse wurden immer größer, ihre niedlichen Gesichter verzerrten sich, bis sie anfingen, der gruseligen Puppe zu ähneln, die unten im Keller hing. Und wieder schrie irgendwo ein Kater.

Tag 3

Das Bett neben ihr war leer, als Carla mit leichten Kopfschmerzen erwachte. Sie sah auf ihren Wecker, der auf dem Nachttisch stand und erschrak, denn es war bereits nach 8 Uhr. Johanna war anscheinend rechtzeitig aufgestanden und ins Büro gefahren. Die Küche sah noch genauso aus, wie am vergangenen Abend - aufgeräumt. Carla wusste, dass Johanna das Frühstück meist ausfallen ließ. Dass allerdings auch das Katzenfutter immer noch unberührt dastand, war eher ungewöhnlich. Sie runzelte ärgerlich die Stirn. Die Katze würde doch nicht zur Streunerin werden, die jedem liebestollen Kater einfach hinterher lief?

Als Kaffeeduft den Raum erfüllte und Heino vom blau blühenden Enzian sang, besserte sich ihre Laune bereits wieder. Heute war ein guter Tag. Perfekt geeignet zum Wäschewaschen. Carla liebte es, am Morgen bereits zu wissen, was sie den Tag über erledigen wollte. Und heute Abend käme Mark zurück, da würde sie ihnen etwas Leckeres kochen.

Aber vorher musste sie unbedingt den Flickenteppich in Marks Zimmer zurücklegen, der noch auf der Leine im Garten hing. Er war inzwischen getrocknet und roch frisch wie eine Sommerwiese. Sie rollte ihn zusammen und stellte ihn in den Flur. Dabei fiel ihr Blick auf das kleine grellbunte Windlicht. Es passte überhaupt nicht zu ihren anderen Nippes, meist kleine Engel, Elfen und jede Menge niedlicher Kätzchen. Entschlossen nahm Carla das unwillkommene Geschenk, stieg damit hinab in den Keller und legte es zu dem anderen Plunder, der größtenteils ebenfalls aus Geschenken ihrer Schwester bestand. Wie unüberlegt und willkürlich diese ausgewählt waren, merkte man allein daran, dass Johanna nie eines dieser Teile vermisste, obwohl sie jede Woche ins Haus kam. Während Carla darüber nachdachte, war sie bereits wieder auf dem Weg nach oben. So streifte ein weiterer Gedanke nur ganz kurz ihre Aufmerksamkeit und war sofort wieder verschwunden. Irgendetwas war anders gewesen im Keller.

Karel Gott sang „für immer jung“ und Carla summte leise mit, als sie Marks Zimmer betrat. Als Erstes ließ sie die Jalousien wieder herunter. Die Fenster waren von der Straße aus zu sehen, und sie musste ihren Sohn ja nicht mit der Nase darauf stoßen, dass sie in seinem Zimmer gewesen war. Schade, nun war der Sommer wieder ausgesperrt aus diesem Raum und fast schien es ihr, als hinge bereits wieder dieser erdige Geruch in der Luft. Sie ging zurück in den Flur, holte den Flickenteppich und rollte ihn vor Marks Bett aus. Im dämmrigen Halbdunkel des Raumes hätte sie fast etwas übersehen. Ein bunter Zipfel schaute unter dem Bett hervor, eines von Johannas Tüchern. Empörung stieg in ihr auf. Was hatte ihre Schwester in Marks Zimmer zu suchen? Ärgerlich bückte sie sich und wieder stieg ihr dieser Geruch nach alter Erde in die Nase. Jetzt fiel ihr ein, was im Keller anders gewesen war - die Puppe hatte nicht mehr dort gehangen! Im selben Moment, als Carla das Tuch ihrer Schwester in der Tasche ihrer Kittelschürze versinken ließ, glitt ein Schatten unter dem Bett hervor.

***

Mark sah Johannas Auto unter der Kastanie stehen und freute sich. Er mochte seine Tante, sie war so unbeschwert und lebensfroh und wollte auf keinen Fall mit „Tante“ angeredet werden. Heute schien sie freizuhaben und noch bei seiner Mutter zu sein. Seine Mutter. Er musste unbedingt mit ihr reden. Seit dem Tod des Vaters hatte er sich von ihr zurückgezogen, das war nicht fair gewesen. Beide hatten sie einen geliebten Menschen verloren, beide getrauert. Sie hatte aber weiterhin versucht, sich liebevoll um ihren Sohn zu kümmern. Vieles war ihm in den letzten zwei Tagen klar geworden, in guten Gesprächen mit seinen Freunden. Besonders Paul, dessen Eltern geschieden waren und der mit seinen zwei jüngeren Geschwistern und der Mutter allein lebte, hatte ihm gehörig den Kopf gewaschen und von seiner, Marks Verantwortung geredet. So hatte er das bisher nicht gesehen, leider. Nun kam er sich dumm und egoistisch vor, schämte sich, seiner Mutter nicht mehr beigestanden zu haben.

Im Garten flatterte Wäsche auf der Leine, die Haustür war nur angelehnt. In der Küche plärrte dieses schreckliche Schnulzenradio. Mark grinste. Auch da wollte er künftig toleranter sein, obwohl es schwerfiel.
Mama? Ich bin wieder da!“ „Johanna?“ Niemand antwortete, anscheinend waren sie kurz spazieren. Mark nahm den Rucksack ab, ging über den Flur und sah, dass die Tür zu seinem Zimmer ebenfalls nur angelehnt war. Leicht ärgerlich runzelte er die Stirn, als er eintrat. Alles schien unverändert. Er rüttelte an der Tür des Wandschranks und atmete erleichtert auf. Gut. Der Schrank war fest verschlossen. Vielleicht war es zu riskant gewesen, die Puppe von der anderen Seite mitzubringen. Mark warf einen Blick unter das Bett. Die Puppe lag genau dort, wo er sie hingelegt hatte. Doch da lag noch etwas. Mark bückte sich und was er aufhob, war ein Knopf. Aus glänzendem Perlmutt mit Goldrand.


Freitag, 1. Juni 2012

Ein Neuer



Es soll ja Menschen geben, die sich nur trennen können, wenn der oder die Neue bereits in Sicht ist. Ich gebe es ungern zu, aber in diesem Fall gehöre ich auch zu dieser Gruppe. Nennt mich Weichei, egal.


Wenn man, wie wir, bereits über mehrere Jahre zusammenlebt, trennt man sich nicht eben so. Irgendwie hatten wir uns ja zumindest aneinander gewöhnt, auch wenn die anfängliche Begeisterung für den Anderen mit der Zeit nachgelassen hat. 


Aber dann fing ich an, mich immer mehr an Kleinigkeiten zu stören, die entweder am Anfang noch nicht da waren, oder aber, die ich übersehen bzw. toleriert hatte. Dass er manchmal so komische Geräusche machte, irgendwie gurgelnd. Und er hörte auch nicht damit auf, mir zuliebe. Mittlerweile fand ich das richtig ekelig. Auch verhielt er sich, was die eigene Reinigung und Pflege anging, sehr passiv. Ohne meine Initiative wäre er total verkeimt. Brrr ..., da schüttelt‘s mich.

Zurückblickend frage ich mich ehrlich, wie ich es so lange mit ihm aushalten konnte. Wahrscheinlich hatte ich einfach Angst, mich auf einen noch unbekannten Neuen einzulassen. Man weiß ja nie, ob man nicht vom Regen in die Traufe kommt ...


Doch nun ist es geschehen. Und ich bin glücklich, dass ich mich getrennt habe. Hätte ich schon viel früher tun sollen. Wenn ich überlege, wie viel Energie er mich gekostet hat!

Der Neue ist einfach toll. Groß, fast einen Meter neunzig. Er ist cool. Rücksichtsvoll und leise. Mit ihm werde ich viele Jahre glücklich sein, dessen bin ich mir jetzt schon sicher. Und er ist etwas ganz Besonderes. Wenn er mich mit seinem magischen Auge anschaut, dann weiß ich, dass es richtig war, endlich einen neuen Kühlschrank zu kaufen.