Tag 1
Carla winkte
ihm nach, doch er sah sich nicht um. Es wäre ihm sicher peinlich vor
seinen Freunden, dachte sie und ein wenig tat er ihr leid. Er sollte
sich wegen seiner Mutter nicht schämen.
Beim Frühstück
hatte der Achtzehnjährige kein Wort geredet, er sprach auch sonst
nicht viel mit ihr. Hatte stumm seinen Kaffee aus der geblümten
Tasse getrunken, schweigend die belegten Brote genommen, die sie ihm
bereitet hatte und wortlos die Brotdose in seinem Rucksack verstaut,
der nur locker gefüllt schien, obwohl er sicher alles enthielt, was
ihr Sohn für knapp drei Tage Zelten benötigte. Als sie ihm zum
Abschied eine schöne Zeit wünschte, hatte er nur „Tschüss“
gemurmelt und war mit einem großen Schritt die zwei Stufen hinab
gesprungen zu Paul, Erik und Peter, die vor der Haustür auf ihn
warteten. Und mit ihnen ein herrlicher Morgen, voller Sonnenschein,
Vogelgezwitscher und duftenden Blumenbeeten vor jedem einzelnen Haus
ihrer Straße.
Mark, ihr
kleiner Junge, wie sie ihren einzigen Sohn im Stillen immer noch
nannte, war ihr irgendwann entglitten. Wenn er zu Hause war, schloss
er sich meist in seinem Zimmer ein. Dort war sein heiliges Reich, das
sie nicht betreten durfte. Vorbei war die Zeit, als munteres
Kinderlachen, aus der stets offenen Tür, durchs ganze Haus geschallt
war. Stattdessen vibrierten manchmal die Wände vom Gedröhne der
Bässe und drangen kreischende Musikfetzen nach außen, die ihren
Ohren wehtaten. Und wie er sich kleidete! Hochgewachsen und schlank,
wie er war, mit leicht gewelltem schwarzen Haar, hatten ihm früher
einfach alle Farben gut gestanden und ihn frisch und strahlend
aussehen lassen. Seit dem Tod seines Vaters trug er nur noch schwarz.
Bestimmt hatte
er auch ewig nicht in seinem Zimmer geputzt. Genau in diesem Moment
musste Carla lächeln, denn ein Teil von ihr hatte nur darauf
gewartet, dass ihr Sohn für ein paar Tage das Haus verließ. Sie
strich ihre Kittelschürze glatt. Der zweite Knopf von oben, aus
glänzendem Perlmutt, mit Goldrand, begann sich zu lösen. Sie sollte
ihn bald festnähen, bevor er von selbst abfiele.
Als sie die
Klinke zu Marks Zimmer herunterdrückte, atmete sie erleichtert auf.
Er hatte nicht abgeschlossen. So musste sie nicht den Zweitschlüssel
benutzen, was dem Ganzen, wie sie fand, ein wenig den Hauch des
Verbotenen nahm. Kaum war sie eingetreten, fühlte sie sich wie in
eine fremde Welt versetzt. Die Rollos waren heruntergelassen, und es
roch muffig, dumpf und irgendwie nach alter Erde. Sie zog die
Jalousien hoch und öffnete mit Schwung beide Fenster. Tief atmete
sie die frische Luft dieses Sommermorgens ein, die nun hereinströmte.
Sonnenkringel tanzten über den Boden, ein lustiger Reigen, der sie
wieder an die Zeit erinnerte, als dies noch ein Kinderzimmer gewesen
war.
Nun blickte
Carla statt auf lächelnd bunte Disney-Poster in grimmig verzerrte
Fratzen, die sie schwarz und düster von den Wänden anstarrten. Es
waren wohl die Bands, deren Musik er hörte, die ihr unverständliche
Namen trugen und welche ihr Lieblingssender nie spielen würde.
Kopfschüttelnd ging sie zurück in die Küche, drehte das Radio
lauter, sodass es im ganzen Haus zu hören war, und sang voller
Inbrunst mit, als Andrea Berg ihr „Du hast mich tausend mal belogen
...“ hinaus in den Sommertag schmetterte.
Bewaffnet mit
einer ganzen Batterie Reinigungsmittel, Lappen und einem Eimer heißen
Wassers, kam sie zurück in das Zimmer und begann ihr Werk. Zunächst
putzte sie die Fenster. Mark würde es nicht bemerken, da er
eigentlich immer die Rollos geschlossen hielt. Dann staubte sie die
Regale ab, was schnell erledigt war, denn dort stand nichts, bis auf
ein paar Bücher, die ihr ähnlich gruselig erschienen, wie die
Poster an der Wand. Den großen Wandschrank rührte sie nicht an, das
wäre ihr wirklich wie Frevel erschienen. Außerdem war er
abgeschlossen und hierfür hatte sie keinen Zweitschlüssel.
So nahm sie
sich zum Schluss den Fußboden vor. Der alte Flickenteppich vor dem
Bett würde nach einer Intensivbehandlung in der Waschmaschine und
anschließendem Trocknen in der Sommersonne, nicht mehr so
schrecklich muffig riechen. Das Bett war, wie der Wandschrank, ein
Erbe ihres Vaters, der dieses Haus erbaut und mit, wie er fand, so
praktischen, fest eingebauten Möbeln versehen hatte. Darum lag sie
nun auf dem Bauch, den Staubsauger in der Hand, um auch die letzte
Ecke unter dem Bett noch erreichen zu können. Wenn Mark sie so sehen
könnte, dachte sie und musste kichern. Im nächsten Moment wurde
ihre Aufmerksamkeit gefangen genommen. Da war etwas unter dem Bett,
ein dunkles Bündel. Mit dem langen Rohr des Staubsaugers bekam sie
es zu fassen und zog es mit solchem Schwung hervor, dass es an ihr
vorbei, über die glatten Dielen, bis in die Mitte des Zimmers
schlitterte.
Was war das?
Es roch, nein es stank fürchterlich. Trotz des geöffneten Fensters
dominierte nun ein Geruch von alter Erde den Raum. Im ersten Moment
meinte sie, es mit ungewaschenen Kleidungsstücken ihres Sohnes zu
tun zu haben. Schwarz, düster, wie alles, was er seit ungefähr drei
Jahren trug, als er mit fünfzehn plötzlich beschloss, kein Kind
mehr zu sein. Doch würde Mark nicht immer ihr Kind bleiben, egal wie
alt er und sie auch werden mochten? Nur handelte es sich hier nicht
um seine Kleidung. Es waren grob gewebte alte Lumpen, in Fetzen und
Streifen um etwas gehüllt, das wie ein magerer kleiner Körper
aussah. Eine Puppe, doch nicht so wie die, mit denen sie früher
gespielt hatte. Diese hier hatte keine feinen, hellen Beine, keine
wohlgeformten Arme mit winzigen süßen Fingerchen. Stattdessen
ragten aus dem stinkenden Lumpenbündel knochige Glieder mit viel zu
langen Fingern. Ein dürres Klappergestell, das sehr an ein Skelett
erinnerte. Am schlimmsten aber war das Gesicht. Ein böses Auge
starrten sie an, die andere Augenhöhle war leer. Unter einer
winzigen, knochigen, platten Nase öffnete sich ein irre verzerrter
Mund und gab den Blick frei auf eine Vielzahl schiefer, spitzer,
kleiner Zähne. Die Lippen waren nur angedeutet, schmal und blutleer.
Vor solchen Gestalten hatte sie sich gefürchtet, als sie selbst noch
ein Kind war. Aus Albträumen war sie schreiend und schweißgebadet
aufgewacht, in denen der „Schwarze Mann“ hinter dunklen Türen
auf sie gelauert hatte. Auch jetzt, viele Jahre später, spürte
Carla, wie winzige Schauer ihren Rücken hinab liefen.
Egal, welche
Bedeutung diese gruselige, stinkende Puppe für ihren Sohn haben
mochte, sie würde sie nicht in diesem bald fertig geputzten Zimmer
lassen. Doch einfach in den Müll werfen, ging auch nicht. Aus Marks
Sicht wäre es schon schlimm genug, dass sie sein Zimmer überhaupt
betreten hatte. Da kam ihr die rettende Idee - das Haus hatte einen
kleinen Keller! Dort lagerten Kartoffeln, ein paar Flaschen Wein,
altes Werkzeug, das ebenfalls bereits ihrem Vater gehört hatte und
jede Menge Plunder, von dem sie sich alle paar Jahre trennte und
damit auf den Flohmarkt stellte. Zum Glück hatte sie gerade ihre
Putzhandschuhe an. So fasste sie diese Ausgeburt einer kranken
Fantasie mit spitzen Fingern und trug sie, am ausgestreckten Arm und
so weit wie möglich von ihrem Körper entfernt, in den Keller hinab.
Auf dem Weg, der ihr viel zu lang vorkam, sah sie ständig den
spärlich behaarten Kopf der Puppe vor sich und entdeckte dabei eine
Schlaufe, an der diese sich aufhängen ließ. Da alles in ihr danach
strebte, dieses widerliche Ding so schnell wie möglich loszuwerden,
hängte sie die Figur an den nächstbesten Nagel, der aus dem
unverputzten Mauerwerk der Kellerwand hervorstand.
Nachdem sie
die Tür geschlossen hatte und die Treppe wieder hinaufstieg, musste
sie wieder an ihre kindlichen Albträume denken. Darin hatte genau
hinter dieser Kellertür der „Schwarze Mann“ gewohnt, den sie
jedoch nie zu sehen bekam, da sie jedes Mal schreiend aus dem Schlaf
fuhr, wenn die Tür sich langsam zu öffnen begann.
Carla atmete
erleichtert auf, als sie wieder oben im sonnendurchfluteten Raum
stand. Die Putzhandschuhe warf sie direkt in den Müll, da ihnen der
alte, erdige Geruch anzuhaften schien und sie sich dadurch nicht den
strahlenden, duftenden Sommertag verderben lassen wollte. Vom Radio
wurde sie gerade mit einer beschwingten Melodie daran erinnert, dass
sie nicht immer siebzehn sein könne. Schade, aber das hatte sie
selbst im Laufe der letzten Jahrzehnte schon festgestellt. Trotzdem
trällerte sie fröhlich mit, und wenig später erstrahlte das Zimmer
ihres Sohnes in neuem Glanz.
Wenn sie nun
schon dabei war, konnte sie auch gleich den Rest des Hauses ein wenig
putzen. Das tat sie eigentlich ständig. Es lag kaum ein Stäubchen
auf dem Boden oder den kleinen Schränkchen und Regalen, die mit
Nippes gefüllt waren. Ansonsten dominierten im Haus Häkeldeckchen,
Unmengen von Häkeldeckchen, fein und filigran gearbeitet, in allen
möglichen Mustern, aber immer blütenweiß. Außerdem gehäkelte
Gardinen, Kissen und Bettüberwürfe, ebenfalls alle weiß. Ein Erbe
ihrer Mutter, das Carla in Ehren hielt. Sie hatte ihre Mutter kaum
gekannt, aber wenn sie nicht so jung gestorben wäre, hätte sie
wahrscheinlich das ganze Haus eingehäkelt. Woher hatte sie nur die
Zeit genommen, mit drei kleinen Kindern? Zum Putzen ist sie
wahrscheinlich nie gekommen, dachte Carla und besann sich wieder
ihrer Aufgabe. Die gewohnte Routine ließ sie den Schreck um die
Puppe schnell vergessen. Außerdem gab diese Tätigkeit ihrem Tag
eine Wichtigkeit, eine Bedeutung. Es war ein sinnvolles Tun, nach dem
sie sich am Abend nur zu gern entspannen würde.
Später räumte
sie die Putzsachen fort und fütterte Minka, die Katze, die ihr dabei
leise miauend um die Beine strich. Mit ihr redete sie gern. Zwar
antwortete die Katze ihr genau so wenig, wie ihr Sohn, doch blickten
ihre grünen Katzenaugen manchmal so allwissend in die Welt, als
verstünde sie jedes Wort.
Sie duschte
und wärmte sich den Rest Hühnchen vom vergangenen Abend auf. Im
Fernsehen lief ein alter Film mit Heinz Rühmann. Für ihn hatte sie
schon immer geschwärmt, er war aber auch ein lustiger, charmanter
Kerl! So ganz anders, als die Männer in ihrer Familie. Von ihrem
Großvater, über ihren Vater bis hin zu ihrem verstorbenen Ehemann,
waren sie alle schweigsam und irgendwie humorlos gewesen. Carla
konnte sich nicht erinnern, einen von ihnen je singen gehört zu
haben, außer am Sonntag in der Kirche. Ihr Sohn würde diese Reihe
wohl fortsetzen, leider. Mit diesen Gedanken ging sie zu Bett. Sie
war einfach nur müde, hatte heute eben doch mehr getan, als
normalerweise. Kaum dass sie unter ihrer weichen Decke lag, fiel sie
bereits in einen traumlosen Schlaf. Nur einmal schreckte sie kurz
auf, weil anscheinend direkt unter ihrem Fenster ein Kater verliebte
Schreie von sich gab, die sie immer an Babygeschrei erinnerten.
Tag 2
Der Morgen
versprach einen weiteren strahlenden Sommertag und Carla freute sich
auf ihre Einkaufstour zum Wochenmarkt. In dieser Jahreszeit gab es
dort das beste Angebot an frischem Gemüse aus der Umgebung. Sie
hatte wunderbar geschlafen und fühlte sich frisch und
unternehmungslustig. Als sie nach einem ausgiebigen Frühstück ihr
Fahrrad aus dem Schuppen holte, bemerkte sie, dass der Sattel sich
gelockert hatte und leicht hin und her wackelte. Das passende
Werkzeug befand sich im Keller. Beim Öffnen der Kellertür erschrak
sie im ersten Moment, denn sie blickte direkt in die irre Fratze der
Puppe. Kopfschüttelnd schalt sie sich selbst eine kleine dumme
Närrin und drehte die Puppe mit dem Gesicht zur Wand. Dabei fiel ihr
Blick auf den Kellerboden und etwas, das gestern ganz sicher noch
nicht dort gelegen hatte. Verwundert bückte sie sich und stellte
fest, dass es sich dabei wohl um ein paar um Hühnerknochen handelte.
Wie kamen die Reste ihres Abendessens hierher? Und lagen da nicht
auch ein paar Katzenhaare auf den Knochen? Natürlich hatte sie
sofort Minka in Verdacht, doch die würde ihr, wie immer, keine
Antwort geben. So räumte sie seufzend die Knochen fort und klinkte
die Kellertür sorgfältig wieder ein, damit die Katze sie nicht noch
einmal öffnen konnte.
Das Fahrrad
war schnell repariert. Carla verbrachte den Tag äußerst angenehm
mit Einkaufen und Putzen, bevor sie am späten Nachmittag mit den
Vorbereitungen für das Abendessen begann. Heute Abend kam ihre
Schwester Johanna zu Besuch. Das war jede Woche eine willkommene
Abwechslung. Sie würden sich gemeinsam im Fernsehen eine Quizsendung
ansehen, ein Schlückchen Wein trinken und über Belanglosigkeiten
plaudern. Vorher stellte sie noch schnell das Futter für die Katze
hin, die ganz entgegen ihrer Gewohnheit noch nicht wieder ins Haus
gekommen war. Bestimmt hatte der liebestolle Kater ihr den Kopf
verdreht. Nun, sie würde schon wieder zur Vernunft kommen und
hungrig den Weg nach Hause finden.
Johanna hatte
ihr Auto in der Nebenstraße geparkt, direkt unter der großen
Kastanie. Sie behauptete immer, das sei ihr persönlicher Parkplatz,
weil sie als Kind das damals kleine Bäumchen in einem heißen Sommer
fleißig begossen hatte. Nun ja, ihre Schwester hatte sich schon
immer für Pflanzen interessiert, kannte die meisten Blumen mit Namen
und kleidete sich
stets farbenfroh wie ein Primelbeet im Frühling.
Sie kam auch heute wieder mit einer Unzahl verschiedenfarbiger Tücher
um den Kopf und in einem fürchterlich bunten Gewand, von dem sie
behauptete, es sei indisch. Carla fand es eher kindisch. Genau wie
die Geschenke ihrer Schwester. Jede Woche brachte sie ihr etwas
anders Unnützes mit, das meist im Keller verschwand und auf den
nächsten Flohmarkt wartete. Heute zog Johanna ein winziges,
grellbuntes Windlicht aus einer der unzähligen Taschen ihres
Gewandes und drückte es der Schwester in die Hand. Carla heuchelte
kurz Dankbarkeit, bevor sie das Geschenk achtlos auf das
Telefontischchen im Flur stellte.
Nachdem sie
gemeinsam zum Abendessen einen gesunden Gemüseauflauf restlos
verspeist hatten, machten die beiden Schwestern es sich auf der Couch
gemütlich. Natürlich wusste Johanna bei der Quizsendung wieder
alles besser. Carla ärgerte sich im Stillen darüber, hatte sich
aber schon früh daran gewöhnt, dass ihre Schwester klüger war als
sie. Doch was nützte es ihr? Die Million würde sie mit ihrem Wissen
auch nicht gewinnen, hier vom Sofa aus. Wie um diese negativen
Gedanken zu verscheuchen, schenkte sie sich und auch Johanna immer
wieder von dem süßen Wein nach, den sie beide so gern tranken. So
wurde der Abend langsam lustiger und das Gespräch belangloser.
Als sie zu
Bett gingen, stöhnte Johanna, weil ihr einfiel, dass sie am Morgen
sehr früh aufstehen musste, um von hier ins Büro zu fahren. Carla
kicherte nur und fühlte sich wieder zurückversetzt in alte Zeiten.
Genau wie damals lagen die beiden Schwestern nebeneinander im großen
Ehebett. Dort hatten sie als kleine Mädchen immer schlafen dürfen.
Ihr Vater schlief währenddessen im Gästezimmer. Nach dem frühen
Tod ihrer Mutter hatte er seine drei Kinder allein großgezogen und
nie wieder geheiratet.
Carla schlief
unruhig, träumte wirre Träume von Katzen in bunten Gewändern, die
bei einer Quizshow alle Fragen richtig beantworten konnten und dann
plötzlich anfingen, Mäuse in die Luft zu werfen. Die Mäuse wurden
immer größer, ihre niedlichen Gesichter verzerrten sich, bis sie
anfingen, der gruseligen Puppe zu ähneln, die unten im Keller hing.
Und wieder schrie irgendwo ein Kater.
Tag 3
Das Bett neben
ihr war leer, als Carla mit leichten Kopfschmerzen erwachte. Sie sah
auf ihren Wecker, der auf dem Nachttisch stand und erschrak, denn es
war bereits nach 8 Uhr. Johanna war anscheinend rechtzeitig
aufgestanden und ins Büro gefahren. Die Küche sah noch genauso aus,
wie am vergangenen Abend - aufgeräumt. Carla wusste, dass Johanna
das Frühstück meist ausfallen ließ. Dass allerdings auch das
Katzenfutter immer noch unberührt dastand, war eher ungewöhnlich.
Sie runzelte ärgerlich die Stirn. Die Katze würde doch nicht zur
Streunerin werden, die jedem liebestollen Kater einfach hinterher
lief?
Als Kaffeeduft
den Raum erfüllte und Heino vom blau blühenden Enzian sang,
besserte sich ihre Laune bereits wieder. Heute war ein guter Tag.
Perfekt geeignet zum Wäschewaschen. Carla liebte es, am Morgen
bereits zu wissen, was sie den Tag über erledigen wollte. Und heute
Abend käme Mark zurück, da würde sie ihnen etwas Leckeres kochen.
Aber vorher
musste sie unbedingt den Flickenteppich in Marks Zimmer zurücklegen,
der noch auf der Leine im Garten hing. Er war inzwischen getrocknet
und roch frisch wie eine Sommerwiese. Sie rollte ihn zusammen und
stellte ihn in den Flur. Dabei fiel ihr Blick auf das kleine
grellbunte Windlicht. Es passte überhaupt nicht zu ihren anderen
Nippes, meist kleine Engel, Elfen und jede Menge niedlicher Kätzchen.
Entschlossen nahm Carla das unwillkommene Geschenk, stieg damit hinab
in den Keller und legte es zu dem anderen Plunder, der größtenteils
ebenfalls aus Geschenken ihrer Schwester bestand. Wie unüberlegt und
willkürlich diese ausgewählt waren, merkte man allein daran, dass
Johanna nie eines dieser Teile vermisste, obwohl sie jede Woche ins
Haus kam. Während Carla darüber nachdachte, war sie bereits wieder
auf dem Weg nach oben. So streifte ein weiterer Gedanke nur ganz kurz
ihre Aufmerksamkeit und war sofort wieder verschwunden. Irgendetwas
war anders gewesen im Keller.
Karel Gott
sang „für immer jung“ und Carla summte leise mit, als sie Marks
Zimmer betrat. Als Erstes ließ sie die Jalousien wieder herunter.
Die Fenster waren von der Straße aus zu sehen, und sie musste ihren
Sohn ja nicht mit der Nase darauf stoßen, dass sie in seinem Zimmer
gewesen war. Schade, nun war der Sommer wieder ausgesperrt aus diesem
Raum und fast schien es ihr, als hinge bereits wieder dieser erdige
Geruch in der Luft. Sie ging zurück in den Flur, holte den
Flickenteppich und rollte ihn vor Marks Bett aus. Im dämmrigen
Halbdunkel des Raumes hätte sie fast etwas übersehen. Ein bunter
Zipfel schaute unter dem Bett hervor, eines von Johannas Tüchern.
Empörung stieg in ihr auf. Was hatte ihre Schwester in Marks Zimmer
zu suchen? Ärgerlich bückte sie sich und wieder stieg ihr dieser
Geruch nach alter Erde in die Nase. Jetzt fiel ihr ein, was im Keller
anders gewesen war - die Puppe hatte nicht mehr dort gehangen! Im
selben Moment, als Carla das Tuch ihrer Schwester in der Tasche ihrer
Kittelschürze versinken ließ, glitt ein Schatten unter dem Bett
hervor.
***
Mark sah
Johannas Auto unter der Kastanie stehen und freute sich. Er mochte
seine Tante, sie war so unbeschwert und lebensfroh und wollte auf
keinen Fall mit „Tante“ angeredet werden. Heute schien sie
freizuhaben und noch bei seiner Mutter zu sein. Seine Mutter. Er
musste unbedingt mit ihr reden. Seit dem Tod des Vaters hatte er sich
von ihr zurückgezogen, das war nicht fair gewesen. Beide hatten sie
einen geliebten Menschen verloren, beide getrauert. Sie hatte aber
weiterhin versucht, sich liebevoll um ihren Sohn zu kümmern. Vieles
war ihm in den letzten zwei Tagen klar geworden, in guten Gesprächen
mit seinen Freunden. Besonders Paul, dessen Eltern geschieden waren
und der mit seinen zwei jüngeren Geschwistern und der Mutter allein
lebte, hatte ihm gehörig den Kopf gewaschen und von seiner, Marks
Verantwortung geredet. So hatte er das bisher nicht gesehen, leider.
Nun kam er sich dumm und egoistisch vor, schämte sich, seiner Mutter
nicht mehr beigestanden zu haben.
Im Garten
flatterte Wäsche auf der Leine, die Haustür war nur angelehnt. In
der Küche plärrte dieses schreckliche Schnulzenradio. Mark grinste.
Auch da wollte er künftig toleranter sein, obwohl es schwerfiel.
„Mama? Ich
bin wieder da!“ „Johanna?“ Niemand antwortete, anscheinend
waren sie kurz spazieren. Mark nahm den Rucksack ab, ging über den
Flur und sah, dass die Tür zu seinem Zimmer ebenfalls nur angelehnt
war. Leicht ärgerlich runzelte er die Stirn, als er eintrat. Alles
schien unverändert. Er rüttelte an der Tür des Wandschranks und
atmete erleichtert auf. Gut. Der Schrank war fest verschlossen.
Vielleicht war es zu riskant gewesen, die Puppe von der anderen
Seite mitzubringen. Mark warf einen Blick unter das Bett. Die
Puppe lag genau dort, wo er sie hingelegt hatte. Doch da lag noch
etwas. Mark bückte sich und was er aufhob, war ein Knopf. Aus
glänzendem Perlmutt mit Goldrand.
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