Freitag, 25. Januar 2013

Ich wachse ...

Heute, beim Müll rausbringen, traf ich den Nachbarn vor seinem Keller, und sagte
"Hallo Peter. Na, bist Du auch am Aufräumen?"
"Nein, ich wachse."
Ich schaute ihn leicht belustigt an. Okay, er ist nicht besonders groß, sogar noch ein Stückchen kleiner als ich. Vom Alter her allerdings Fünfzig plus!
"Ach Peter", sagte ich. "Du wächst doch sicher nicht mehr."
Er machte große Augen, lachte und versicherte mir:
"Doch, doch, ich wachse. Jetzt gerade - meine Skier!"

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Sehr gefreut habe ich mich heute, als ich sah, dass "Nach(t)Sicht" den Sprung über den "großen Teich" geschafft hat und auch bereits in den USA verkauft wurde. :-)





Donnerstag, 17. Januar 2013

Liselotteratur

Einige von Euch wissen, dass mir das oben genannte Wortspiel schon längere Zeit im Kopf umhergeht. Nun ist er also da, der Blog mit diesem Namen ;-) 
Ich wünsche Euch dort viel Spass beim Lesen über das Lesen und Gelesenes

--> Liselotteratur

Und hier noch das "Beweisfoto" zum Neobooks-Wettbewerb. Ich freu mich immer noch und muss nun ganz schnell das Exposé und die Leseprobe zum Verlag schicken.


Mittwoch, 16. Januar 2013

2013

Das neue Jahr ist gar nicht mehr so neu, gute Vorsätze mögen bei manch einem schon wieder gebrochen worden sein und in nur 342 Tagen ist sowieso schon wieder Weihnachten ...
Etwas verspätet wünsche ich Euch alles Gute für 2013 - Gesundheit, Liebe, Erfolg und viele große und kleine Glücksmomente!

Als kleine Entschädigung fürs lange Warten auf die Fortsetzung dieses Blogs, gibt es heute eine kleine Geschichte, die frisch erdacht und somit fast noch warm ist ;-) Eure Meinungen dazu würden mich SEHR freuen ...

Apropos Meinungen - der neobooks Quartalswettbewerb ging gestern zu Ende, über das Ranking entschieden die Rezensionen, in denen Sterne und Empfehlungen vergeben werden konnten, und auf Platz 1 landete "Nach(t)Sicht"!!! Ich bin stolz und glücklich, dass mein erstes Buch so gut ankommt. Als Preis gibt es zunächst ein professionelles Lektorat und dann die Chance auf einen Verlagsvertrag. Ich bin gespannt und froh, dass ich nicht voller Ungeduld warten muss, was der Verlag sagt, denn es gibt das Buch ja bereits, erschienen im Dürrainverlag ;-)

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Spurwechsel

Er erwachte mit diesem prickelnden Gefühl der Vorfreude, das nur kleine Jungen kennen. Und zwar, solange sie den Glauben noch nicht verloren haben, dass am Weihnachtstag etwas ganz Besonderes passieren könnte. Nein, nicht einfach nur etwas Besonderes, sondern etwas sehr Schönes, das einen tiefsten Herzenswunsch erfüllen sollte. Johannes spürte Ströme von Energie durch seine Adern fließen, die ihn ermuntern wollten, sofort aus dem Bett zu springen und vergnügt durchs Haus zu tollen. Doch ein Blick auf den Wecker ließ ihn einsehen, dass es dafür noch zu früh war - um fünf Uhr morgens. Ein weiterer Blick, auf die leise schnarchende Gestalt im Bett neben ihm, holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Da schlief Walburga, seine Frau. Johannes war kein kleiner Junge mehr, sondern ein Mann, der auf die Fünfzig zuging. Herzenswünsche? Die trug er doch schon lange nicht mehr in sich, hatte den Glauben an ihre Kraft verloren. Er kam zurecht, hatte eine vorzeigbare Ehefrau, zwei gesunde Kinder, einen vernünftigen Job und ein fast abbezahltes Haus - das allein zählte, oder? Aber wenn er ehrlich war, musste er eingestehen, dass sein Job ihn langweilte, die Kinder ihn meistens nervten und seine Frau ihm gleichgültig geworden war. Das Haus empfand er als Klotz am Bein. Was sollte ER sich wünschen? Trotzdem war da dieses Gefühl, dass dies ein ganz besonderer Tag wäre, als er aus dem Schlafzimmer schlich.

Ein wenig ratlos stand er auf Socken in der Küche, denn die Pantoffeln hatte er unter dem Bett vergessen. Zurückschleichen und Gefahr laufen, Walburga zu wecken? Lieber nicht. Stattdessen kramte er seine Sommersandalen aus dem Schuhschrank hervor, die waren sauber, sodass sich seine Frau wohl nicht daran stören würde, wenn er mit ihnen die gute Stube betrat. Ein spitzbübisches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, als er den Weihnachtsbaum aus seinem Netz befreite und in dem mit frischem Wasser gefüllten Ständer so ausrichtete und fixierte, dass er kerzengerade stand. Das vertraute Blubbern der Kaffeemaschine verkündete, dass sein Morgenkaffee heute ebenfalls früher als gewöhnlich auf ihn wartete. Der Kaffeeduft mischte sich mit dem Geruch der frischen Tannennadeln und erinnerte ihn wieder an die Weihnachtsfeiertage seiner Kindheit. So unbeschwert wie damals summte er vergnügt ein Liedchen vor sich hin und begann, den Baum zu schmücken. Zuerst die Kerzen, dann die Kugeln, zum Schluss das Lametta. Zufrieden betrachtete er sein Werk, denn nun kam der Höhepunkt des alljährlichen Rituals. Einmalig und nicht wiederholbar – wenn die elektrischen Kerzen zum allerersten Mal aufleuchteten und den Raum mit ihrem warmen Glanz erfüllten. Johannes hielt fast zögerlich den Stecker in der Hand, als wolle er diesen kurzen Moment der Vorfreude in die Länge ziehen, um ihn ganz auszukosten.

Dann überzog ein Strahlen jeden Gegenstand in der Stube mit seinem goldenen Schein und Johannes' Gesicht mit einem breiten Lächeln. Fast zeitgleich ertönte hinter ihm ein entsetztes: „Ach du meine Güte!“ und sein Lächeln gefror. Walburga stand in der Tür, noch im Morgenmantel, die langen, von ersten grauen Strähnchen durchzogenen Haare ungekämmt. Eigentlich sah sie so ganz sexy aus, wenn der verkniffene Ausdruck ihrer Mundwinkel nicht gewesen wäre. Vorwurfsvoll wies sie ihn auf die ungleichmäßig langen Zweige des Baumes hin, erklärte wortreich, dass diese Asymmetrie ihren Augen wehtäte und stand in der nächsten Sekunde mit der großen Küchenschere in der Hand neben ihm.

Was nun kam, nannte er im Stillen die „Weihnachtsbaumbeschneidung“. Anschließend hängte seine Frau noch ein paar Kugeln von hier nach da, um die Symmetrie des Baumes zu perfektionieren. Erst dann war sie zufrieden. Die anklagend nackten Enden der abgeschnittenen Zweige schienen sie nicht zu stören. Johannes dagegen war die Freude am Weihnachtsbaum vergangen. Er vergrub sich nach dem Frühstück in seinem Arbeitszimmer, gab vor, mit weihnachtlichen Heimlichkeiten beschäftigt zu sein. Stattdessen sah er sich online Videos von Modellflugzeugen an, die in spektakulären Landschaften ihre Kreise zogen. So frei und unbeschwert über allem zu schweben, das wäre sein Herzenswunsch, wenn er denn auf Erfüllung hoffen könnte. Vielleicht würde er ja im nächsten Leben als Vogel wiedergeboren? Als stolzer Adler, der die Welt von oben betrachtete, aus einer Perspektive, die die alltäglichen Sorgen der Menschen lächerlich klein erscheinen ließ.

Walburga akzeptierte seinen Rückzug und ließ ihn in Ruhe. Wahrscheinlich war sie sogar froh, ganz nach ihrer Vorstellung im Hause schalten und walten zu können. Wenn er freihatte, kam er sich manchmal so störend und überflüssig vor.

Kurz vor fünfzehn Uhr hämmerte der achtjährige Leon an die Tür des Arbeitszimmers, bevor er sie weit aufriss.
„Papa!“, krähte er. „Mama sagt, du sollst dich umziehen. Die Omas und Opas werden gleich hier sein.“ Mit lautem Getrampel verschwand er wieder, ließ die Tür offen stehen. Nachdenklich blickte Johannes seinem Sohn hinterher.

Walburga hatte den Kaffeetisch in der guten Stube festlich gedeckt. Der Raum war aus Rücksicht auf die immer frierenden Großmütter um mindestens fünf Grad überheizt. Seit Leon letztes Jahr verkündet hatte, kein Baby mehr zu sein, das noch an den Weihnachtsmann glaubte, blieb Johannes zumindest die Maskerade mit dem klebrigen, kitzelnden Wattebart erspart. Der Geschenkberg lag bereits gleichmäßig unter dem symmetrischen Baum verteilt. Trotzdem hatte Johannes das Gefühl, Teil irgendeiner Soapopera zu sein, wie Walburga sie sich gern im Fernsehen ansah. Seine Schwiegereltern hatten ihm bis heute nicht verziehen, dass er, ein einfacher Bankangestellter, ihre Tochter geheiratet und ihr damit die Chance, sich einen Chefarzt zu angeln und Frau Doktor zu werden, genommen hatte. Seine eigenen Eltern dagegen konnten Walburgas Eltern nicht ausstehen, weil diese sich ihrer Meinung nach für etwas Besseres hielten, obwohl sie sich bis zur Rente mit ihrem Malergeschäft gerade so über Wasser gehalten hatten. Die Stimmung am Tisch war betont überfreundlich, die alten Damen redeten sich mit „meine liebe Ingeborg“ und „meine allerliebste Luise“ an. Die Großväter saßen schweigend dabei. Zeitweise glaubte Johannes ein leises Knurren zu vernehmen, bis nach dem Kaffee der Obstler eingeschenkt wurde und ihre Freundlichkeit sich auf „Prost Alfred“ und „Prost Norbert“ erweiterte, während sie sich ansahen, als ob sie sich am liebsten gegenseitig an die Kehle sprängen.

Walburga bestand, wie jedes Jahr, darauf, dass die Kinder musizierten. Johannes sah die Resignation in den Augen von Leon und Rebecca, als sie ihre Instrumente holen gingen. Die Elfjährige entlockte mit missmutigem Gesicht der Geige Töne, die mit etwas gutem Willen als Melodie durchgehen konnten. Leon mit seiner Blockflöte dagegen schien keinen einzigen Ton von „Oh Tannenbaum“ richtig zu treffen. Als wenn das nicht schon grauenvoll genug wäre, stimmten nun Walburga und die Großeltern gemeinsam singend mit ein. Da die Melodie jedoch schon falsch vorgelegt war, trafen auch sie nicht die richtigen Töne und es klang einfach nur jämmerlich. Johannes schwieg. Sein Blick wanderte entsetzt und auch irgendwie hilflos von einem zum anderen. Sah, wie sie in ihren Rollen gefangen schienen. Er fühlte sich so fremd. Was tat er hier? Plötzlich kamen seine Augen zur Ruhe. Durch das große Blumenfenster sah er hinaus in den Garten, der um diese Tageszeit im Dezember stockfinster daliegen sollte. Jetzt schien er in ein eigenartiges, verheißungsvolles Licht getaucht zu sein. Es hatte zu schneien begonnen.

„Stille Nacht, Heilige Nacht“. Johannes fühlte eine Unruhe in sich, ein Kribbeln und Prickeln, noch viel stärker als das Gefühl, das ihn heute früh aus dem Bett getrieben hatte. Er musste da raus. Jetzt! Egal, was die Familie von ihm dachte.

Entschlossen sprang er auf, flüsterte der verdutzt im Singen innehaltenden Walburga ins Ohr „Ich muss mal raus“ und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, die gute Stube. Hinter ihm ging das Musizieren unterbrechungslos weiter, auch Walburgas Stimme war nun wieder deutlich zu hören: „… Gottes Sohn, oh, wie lacht ...“. Fast ohne stehen zu bleiben, sprang Johannes in seine Stiefel, riss die Jacke vom Haken und setzte sich die Pudelmütze auf den Kopf. Andächtige Stille umfing ihn, kaum dass die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Die Flocken schwebten lautlos zur Erde nieder, bedeckten die Welt mit einem feierlichen, weißen Kleid. Johannes atmete tief ein. Das war Weihnachten, dieser Frieden hier draußen. Die Schneedecke war noch nicht sehr dick, höchstens einen Zentimeter, schätze er. Alles Licht des frühen Abends fing sich in dieser weißen Decke, wurde von ihr zurückgeworfen, und erfüllte so die Welt ringsum mit einem unwirklichen, friedlichen Leuchten. Johannes lief einfach los, folgte der schmalen Landstraße, die sich hinter dem Dorf den Hügel hinauf wand, dem Walde zu. Seine Stiefel hinterließen deutliche Abdrücke im Schnee, ein Fußabdruck nach dem anderen, wie Perlen auf einer Schnur. Ansonsten sah die weiße Decke ringsum rein und unberührt aus, nicht einmal winzige Spuren von Vögeln oder Mäusen konnte er erblicken. Kurz vor dem Waldrand säumten nun hohe, alte Obstbäume die Straße, und streckten ihre kahlen, dunklen Kronen wie zerzauste Köpfe zum Himmel empor.

Eine zweite Spur tauchte auf. Johannes blieb verwundert stehen. Diese Spur war frisch, genau so deutlich sichtbar wie seine. Die Fußabdrücke hatten sich ebenso komplett durch die dünne Schneedicke gedrückt und ließen den dunklen Asphalt der Straße hindurchschimmern. Nur lief diese Spur nicht parallel, wie seine, am Straßenrand entlang, sondern im Kreis, über die gesamte Straßenbreite. Dabei schien sie aus dem Nichts zu kommen und im Nichts zu enden – es gab keine Fußabdrücke, die zu dem Kreis hin oder aus ihm herausführten. Lediglich in der Mitte des Kreises waren ebenfalls drei Abdrücke eines Fußpaares zu sehen, und zwar so schräg versetzt zueinander, als hätte ein Kind Hüpfen gespielt. Johannes schüttelte den Kopf. Hier war doch niemand über den Schnee herbei geschwebt? Oder hatte bei Beginn des Schneefalls regungslos am Straßenrand verharrt, bis die Schneedecke die Dicke von einem Zentimeter erreicht hatte? Und wohin war dieser jemand verschwunden – spurlos?

Fast von allein folgten Johannes Füße den Spuren, setzte er seine Stiefel – rechts, links, rechts – genau in die Abdrücke hinein und lief den Kreis ab. Dabei fielen ihm noch zwei weitere Merkwürdigkeiten auf: Die Fußabdrücke waren deutlich kleiner als seine und sie hatten keinerlei Profil, sonder glatt und sanft auslaufende Ränder, als sei hier jemand auf Socken unterwegs gewesen. Socken? Bei dieser Kälte? Johannes lief allein bei der Vorstellung, hier nur auf Strümpfen zu laufen, ein Schauer über den Rücken. Nun blieb er stehen, war einmal im Kreis den seltsamen Spuren gefolgt und hatte seine eigene, gerade Spur wieder erreicht. In der Ferne hörte er die Kirchenglocken läuten, aber da war noch etwas. Fast klang es wie ein leises Kichern, und es schien ganz aus der Nähe zu kommen.

„Hallo?“ Irgendwie kam er sich albern vor, trotzdem rief Johannes.
Wieder glaubt er ein Kichern zu hören, konnte aber niemanden entdecken.
„Ist da jemand?“
Jetzt hörte er es ganz deutlich – da lachte jemand! Es war ein glucksendes, fröhliches Lachen und es kam von irgendwo oben. Er legte den Kopf in den Nacken, kniff die Augen zusammen und sah prüfend hinauf zu den kahlen Baumwipfeln. Das konnte nicht sein, oder? Eine kleine, dunkle Gestalt hockte dort auf einem Ast, genau über ihm! An dem einen Obstler, den er mit den Großvätern getrunken hatte, konnte es wohl nicht liegen, dass Johannes plötzlich Gespenster sah. Wieder ertönte das glucksende Lachen, und es klang überhaupt nicht gefährlich, eher ansteckend. Johannes' Mundwinkel begannen ebenfalls zu zucken, je mehr ihm die Absurdität der Situation bewusst wurde. Aus dem Zucken wurde ein Grinsen, das breit und breiter wurde, bis der Mann von einem herzhaften und befreienden Lachen geschüttelt wurde. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so fröhlich gefühlt hatte.

„Wer bist Du?“, fragte er, wie es ihm vorkam, Minuten später, während er sich die Lachtränen aus den Augen wischte.
„Komm herauf, dann erzähle ich es Dir!“, forderte ihn das auf dem Ast hockende Wesen freundlich auf.
„Wie?“ Johannes schaute skeptisch auf den Baum mit seinen langen, aber nicht unbedingt sehr dicken Ästen.
„Spring!“
Na klar. Er würde jetzt aus dem Stand einfach etwa drei Meter hoch auf den Baum springen. Johannes blickte amüsiert auf das seltsame Wesen, das er immer noch nur schemenhaft erkennen konnte. Der Teil von ihm, der sich noch an den kleinen Jungen erinnerte, der er einst gewesen war, wollte dieses lustige Spiel mitspielen. So sprang er – nur zum Spaß – und fand sich im nächsten Augenblick hoch oben im Baum, auf einem Ast hockend wieder. Neben ihm saß eine kleine, zottelige Gestalt, blickte ihn mit großen, dunklen Augen erfreut an und streckte ihm eine haarige Hand entgegen.

„Ich bin Walter.“
Angenehm, Johannes.“ Als wäre es die normalste Sache der Welt, hockte er also am Weihnachtsabend neben einem haarigen Wesen im Apfelbaum und machte Small Talk. Johannes kicherte schon wieder, als er sich vorstellte, seine Familie könnte ihn jetzt so sehen. Aus der Nähe betrachtet, wirkte Walter wie ein Riesenkuscheltier. Sein ganzer Körper war mit dunkelbraunem, zotteligen Pelz bedeckt, selbst die Handoberflächen waren komplett behaart, ähnlich wie die Pranken eines Gorillas. Das Gesicht dagegen war eindeutig menschlich. Diese freundlichen, wissenden Augen und die wettergegerbten Gesichtszüge, erinnerten Johannes an einen weisen alten Mann. Sein Blick wanderte an Walters Beinen hinab.
„Du trägst Socken?“
„Ja, ich krieg' sonst kalte Füße.“
„Verstehe.“

Worüber redete man mit so einem Wesen? Doch wohl kaum über Socken. Johannes war ein wenig ratlos und deshalb schwieg er. Hockte neben Walter auf dem Ast und sah hinab auf die verschneite Landschaft, die sich weiß und unschuldig bis zum Horizont erstreckte.

„Du bist meinen Spuren gefolgt“, stellte Walter fest.
„Ich dachte mir gerade, dass du das gewesen bist.“ Johannes lachte leise auf. „Wie die Kinder ...“
„Nur wer meinen Spuren folgt, kann mich sehen.“ Walters ernster Blick ruhte auf Johannes, der ihn fragend ansah und hoffe, es würden weitere Erklärungen folgen.
„Es war 1942. Damals war ich gerade achtzehn und sehr verliebt in Anna. Wir lebten beide da vorn, im gleichen Dorf wie du“. Walters haarige Pranke deutete hinüber zu den mit dünnen weißen Tüchern aus Schnee überzogenen Dächern. „Dann bekam ich meinen Einberufungsbefehl, sollte an die Front und dort solange Menschen töten, bis ich selbst fallen würde. In meiner Angst, alles zu verlieren – das Leben, die Heimat und die Liebe – lief ich ziellos durch die Gegend, geradeaus, im Kreise, zickzack. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg, doch ich wusste, ich konnte mich dem Befehl der Wehrmacht nicht widerziehen. Bis ich, ähnlich wie du gerade, von oben eine Stimme hörte, die beruhigend zu mir sprach. Das war Friedrich und er sah genauso aus, wie du mich jetzt vor dir siehst.“
Walter hielt inne und sah Johannes prüfend ins Gesicht. Der saß einfach nur da, lauschte, staunte, jedoch lag keine Spur von Unglauben in seinen Augen. So fuhr Walter fort.
„Das hier oben ist ein eigenes, kleines Reich. Unsichtbar und unerreichbar für die meisten Menschen. Ich bin einer seiner Wächter.“
„Was für ein Reich ist das?“
„Das Reich von Flederhausen. Willst Du es sehen? Doch sei gewarnt. Nachdem Friedrich es mir gezeigt hatte, entschied ich, zu bleiben.“

Johannes lachte kurz auf. Er, der seit Jahren tat, was man von ihm erwartete - und er tat es gut – er sollte entscheiden, nicht zurück zu wollen? Zwei Seelen spürte er in seiner Brust. Der kleine Junge war bereit, vorwärts zu stürmen, mitten hinein in das Abenteuer, das er vor sich glaubte. Der erwachsene, reife und vernünftige Mann war gerade resigniert geflüchtet, vor dem, was ihn schon lange nicht mehr glücklich machte. Wollten nicht beide Seelen das Gleiche? Sein Körper straffte sich, er atmete einmal tief durch und sprach:
„Zeig es mir!“
Walter hob stumm die Hand wie zu einem Zeichen.

Ein Raunen erhob sich, schwoll an zu einem Rauschen und Flattern. Von allen Seiten näherten sich schattenhafte Gestalten, die Johannes nur undeutlich erkennen konnte. Gleichzeitig fühlte er, wie er sich veränderte. Er schien etwas zu schrumpfen, nicht viel, aber spürbar. Seine Hände dagegen wuchsen, wurden immer mehr zu Pranken, so wie die von Walter. Haare, unendlich viele dunkle Haare überzogen seine Handoberflächen, wanderten die Arme hinauf und bedeckten kurze Zeit später seinen gesamten Körper. Seine Jacke, seine Stiefel, ja, selbst die Pudelmütze von seinem Kopf, sie waren einfach fort. Stattdessen umhüllte ihn weiches, warmes Fell, sodass er Walter nun verblüffend ähnlich sah. Auch seine Augen schienen sich zu verändern. Mit einem Mal sah er die Welt ringsumher mit einer Klarheit und Schärfe, wie nie zuvor in seinem Leben. Und nicht nur seine Welt – die schneebedeckten Felder, das Dorf im Hintergrund, die Straße, die er gegangen war. Nein, er war nun Teil einer anderen, für ihn völlig neuen Welt. Stimmgewirr umgab ihn, die vielen herbeigeeilten Schatten waren deutlich erkennbare Gestalten geworden, deren Anblick ihn kopfschüttelnd grinsen ließ.

Er sah einen Hasen, ein Reh, einen Fuchs, einen Dachs, einen Waschbären, ein Maus, einen Igel und sogar einen Wolf, auf dessen Rücken ein Maulwurf hockte. Es schien keine Feindschaft zwischen ihnen zu geben, sie alle saßen friedlich miteinander neben Walter und Johannes in der Krone des Baumes, wo es nun ziemlich eng geworden war. Und – sie alle hatten Flügel.

„Was …“ Johannes fehlten die Worte.
„Das sind ein paar der Bewohner Flederhausens, die zu Deiner Begrüßung erschienen sind.“ Walters haarige Hand zeigte in weitem Bogen in die Runde.
Was nun folgte, erinnerte Johannes an die Märchen seiner Kindheit. Die Tiere sprachen! Sie stellten sich einzeln vor, nannten Namen wie Hubert Flederhase, Franz Flederfuchs oder – an dieser Stelle konnte Johannes sein Lachen nicht mehr zurückhalten – Wilhelmine Flederwaschbär. Letztere schaute den Gast mit glänzenden schwarzen Knopfaugen so treuherzig an, dass er ihr liebsten immer wieder über den Kopf gestrichen hätte. Sein Respekt vor diesen sprechenden und damit intelligenten Wesen hielt ihn jedoch zurück. Obwohl er im Hintergrund immer noch die Dächer seines Dorfes sah, kam Johannes sich vor, wie Alice oder Elli, beim Betreten einer völlig anderen, verzauberten Welt. Nein, er träumte nicht, das hier passierte wirklich. Er erfuhr, dass all die Fledertiere in den Wipfeln des Waldes und der Obstbäume ringsumher lebten. Ihre Behausungen waren, wie sie selbst, für die Menschen unsichtbar.

Walter sah ihn prüfend und auch irgendwie erwartungsvoll an: „Wenn du entscheidest zu bleiben, wirst du noch viel mehr sehen.“
„Zeigst Du es mir?“
„Nein, es kann nur einer von uns bleiben. Dass du mich entdeckt hast, war nach den vielen Jahren eine der beiden Möglichkeiten für mich, zurückzukehren in die Menschenwelt. Ich habe lange genug hier gelebt, um vieles zu sehen, das mich glücklich gemacht hat. Doch nicht lange genug, um die kleinen Freuden des Menschseins zu vergessen. Nun, auf meine alten Tage, sehne ich mich nach einer Tasse Tee, dem Duft frisch gebackenen Brotes, einem weichen Bett und ...“ Seine Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck, als er hinzufügte: „... der zarten Berührung einer Frau.“
„Weißt Du, was aus Anna geworden ist?“
Walter zögerte einen Moment, bevor er sprach: „Sie heiratete nach dem Krieg und zog fort. Ich bin sicher, sie hatte ein glückliches Leben.“

Johannes überlegte. So verlockend es auch klang, hier zu bleiben und diese zauberhafte Flederwelt zu entdecken, er trug doch auch Verantwortung. In der Bank kämen sie zwar ohne ihn zurecht, aber was wäre mit Walburga und den Kindern? Sie einfach so allein lassen? Das konnte er nicht. Als hätte Walter seine Gedanken erraten, sprach er leise weiter: „Deine Familie wäre nicht allein. Ich ginge als DU zurück.“
„Dann ging Friedrich damals …?
„Ja, er zog statt meiner in den Krieg. Wie durch ein Wunder überlebte er. Vielleicht war es ja auch der Schutz der Fledergeister, wer weiß. Jedenfalls war er es, in meiner Gestalt, unter meinem Namen, der Anna heiratete und mit ihr fortzog. Sie hat ihm all ihre Liebe gegeben.
Und ich habe ihm vertraut – sie ihm anvertraut.“

Sie sprachen noch lange, über Verantwortung, Flucht, Liebe und den Sinn des Lebens. Johannes erfuhr wichtige Dinge über den Alltag in Flederhausen und konnte sich immer mehr vorstellen, hier zu bleiben.
„Was genau muss ich als Wächter tun?“, fragte er und in diesem Moment wusste Walter, dass er sich bereits entschieden hatte. So jubelte er innerlich, als er Johannes erklärte, wie der Wächter mithilfe der Fledertiere über die Natur ringsum wachen und dafür sorgen sollte, dass die Pflanzen wuchsen und reiche Ernte trugen, dass die Tiere des Waldes immer genug Nahrung fanden und dass am Wegesrand Blumen blühten, an denen die Menschen sich erfreuten konnten.
„Wirst Du ab und zu herkommen, damit ich Dich um Rat fragen kann?“, wollte Johannes wissen.
„Nein, das wird nicht nötig sein. Von den Fledertieren erfährst Du alles, was Du wissen musst.“ Walter schluckte. „Ich mag Dich. Aber ich werde Flederhausen vergessen, sobald ich Deine menschliche Gestalt angenommen habe.“

„Und wenn ich irgendwann zurückkehren will, in die Menschenwelt, so wie Du?“ Ein kleiner Zweifel blieb in Johannes, noch.
„Du hast zwei Möglichkeiten. Du kannst warten, bis jemand in Deine Fußstapfen tritt, genau Deinen Spuren folgt, so wie Du es mit meinen getan hast. Oder Du kannst dichten.“
„Dichten?“ Johannes sah Walter fragend an.
„Ja, ersinne genau einhundert Verse über Flederhausen und seine zauberhaften Bewohner und Du wirst sofort in menschlicher Gestalt in die Welt dort unten zurückkehren.“
„Warum hat Du das nicht getan?“
„Ich bin Bauer. Dichten kann ich nicht, aber warten.“

Damit war alles gesagt. Die beiden zotteligen Gestalten umarmten sich und sahen einander noch einmal tief in die Augen.
„Viel Glück in Flederhausen“, sagte Walter.
„Viel Glück in meinem Leben“, antwortete Johannes.
Walter sprang.

Der Schnee hatte alle Fußabdrücke von vorhin wieder zugedeckt. Der Mann zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Ende hoch und die Pudelmütze tief ins Gesicht. Er lief jetzt gegen den Wind und die Schneeflocken stoben ihm ins Gesicht, auf dem ein glückliches Lächeln lag, als er auf das Dorf zuging. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um, blickte nicht zurück. Warum auch.

Seine Spur schien aus dem Nichts zu kommen ...