Etwas verspätet wünsche ich Euch alles Gute für 2013 - Gesundheit, Liebe, Erfolg und viele große und kleine Glücksmomente!
Als kleine Entschädigung fürs lange Warten auf die Fortsetzung dieses Blogs, gibt es heute eine kleine Geschichte, die frisch erdacht und somit fast noch warm ist ;-) Eure Meinungen dazu würden mich SEHR freuen ...
Apropos Meinungen - der neobooks Quartalswettbewerb ging gestern zu Ende, über das Ranking entschieden die Rezensionen, in denen Sterne und Empfehlungen vergeben werden konnten, und auf Platz 1 landete "Nach(t)Sicht"!!! Ich bin stolz und glücklich, dass mein erstes Buch so gut ankommt. Als Preis gibt es zunächst ein professionelles Lektorat und dann die Chance auf einen Verlagsvertrag. Ich bin gespannt und froh, dass ich nicht voller Ungeduld warten muss, was der Verlag sagt, denn es gibt das Buch ja bereits, erschienen im Dürrainverlag ;-)
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Spurwechsel
Er erwachte
mit diesem prickelnden Gefühl der Vorfreude, das nur kleine Jungen
kennen. Und zwar, solange sie den Glauben noch nicht verloren haben,
dass am Weihnachtstag etwas ganz Besonderes passieren könnte. Nein,
nicht einfach nur etwas Besonderes, sondern etwas sehr Schönes, das
einen tiefsten Herzenswunsch erfüllen sollte. Johannes spürte
Ströme von Energie durch seine Adern fließen, die ihn ermuntern
wollten, sofort aus dem Bett zu springen und vergnügt durchs Haus
zu tollen. Doch ein Blick auf den Wecker ließ ihn einsehen, dass es
dafür noch zu früh war - um fünf Uhr morgens. Ein weiterer Blick,
auf die leise schnarchende Gestalt im Bett neben ihm, holte ihn in
die Wirklichkeit zurück. Da schlief Walburga, seine Frau. Johannes
war kein kleiner Junge mehr, sondern ein Mann, der auf die Fünfzig
zuging. Herzenswünsche? Die trug er doch schon lange nicht mehr in
sich, hatte den Glauben an ihre Kraft verloren. Er kam zurecht, hatte
eine vorzeigbare Ehefrau, zwei gesunde Kinder, einen vernünftigen
Job und ein fast abbezahltes Haus - das allein zählte, oder? Aber
wenn er ehrlich war, musste er eingestehen, dass sein Job ihn
langweilte, die Kinder ihn meistens nervten und seine Frau ihm
gleichgültig geworden war. Das Haus empfand er als Klotz am Bein.
Was sollte ER sich wünschen? Trotzdem war da dieses Gefühl, dass
dies ein ganz besonderer Tag wäre, als er aus dem
Schlafzimmer schlich.
Ein wenig
ratlos stand er auf Socken in der Küche, denn die Pantoffeln hatte
er unter dem Bett vergessen. Zurückschleichen und Gefahr laufen,
Walburga zu wecken? Lieber nicht. Stattdessen kramte er seine
Sommersandalen aus dem Schuhschrank hervor, die waren sauber, sodass
sich seine Frau wohl nicht daran stören würde, wenn er mit ihnen
die gute Stube betrat. Ein spitzbübisches Lächeln schlich sich auf
sein Gesicht, als er den Weihnachtsbaum aus seinem Netz befreite und
in dem mit frischem Wasser gefüllten Ständer so ausrichtete und
fixierte, dass er kerzengerade stand. Das vertraute Blubbern der
Kaffeemaschine verkündete, dass sein Morgenkaffee heute ebenfalls
früher als gewöhnlich auf ihn wartete. Der Kaffeeduft mischte sich
mit dem Geruch der frischen Tannennadeln und erinnerte ihn wieder an
die Weihnachtsfeiertage seiner Kindheit. So unbeschwert wie damals
summte er vergnügt ein Liedchen vor sich hin und begann, den Baum zu
schmücken. Zuerst die Kerzen, dann die Kugeln, zum Schluss das
Lametta. Zufrieden betrachtete er sein Werk, denn nun kam der
Höhepunkt des alljährlichen Rituals. Einmalig und nicht
wiederholbar – wenn die elektrischen Kerzen zum allerersten Mal
aufleuchteten und den Raum mit ihrem warmen Glanz erfüllten.
Johannes hielt fast zögerlich den Stecker in der Hand, als wolle er
diesen kurzen Moment der Vorfreude in die Länge ziehen, um ihn ganz
auszukosten.
Dann überzog
ein Strahlen jeden Gegenstand in der Stube mit seinem goldenen Schein
und Johannes' Gesicht mit einem breiten Lächeln. Fast zeitgleich
ertönte hinter ihm ein entsetztes: „Ach du meine Güte!“ und
sein Lächeln gefror. Walburga stand in der Tür, noch im
Morgenmantel, die langen, von ersten grauen Strähnchen durchzogenen
Haare ungekämmt. Eigentlich sah sie so ganz sexy aus, wenn der
verkniffene Ausdruck ihrer Mundwinkel nicht gewesen wäre.
Vorwurfsvoll wies sie ihn auf die ungleichmäßig langen Zweige des
Baumes hin, erklärte wortreich, dass diese Asymmetrie ihren Augen
wehtäte und stand in der nächsten Sekunde mit der großen
Küchenschere in der Hand neben ihm.
Was
nun kam, nannte er im Stillen die „Weihnachtsbaumbeschneidung“.
Anschließend hängte seine Frau noch ein paar Kugeln von hier nach
da, um
die Symmetrie des Baumes zu perfektionieren. Erst dann war sie
zufrieden. Die anklagend nackten Enden der abgeschnittenen Zweige
schienen sie nicht zu stören. Johannes dagegen war die Freude am
Weihnachtsbaum vergangen. Er vergrub sich nach dem Frühstück in
seinem Arbeitszimmer, gab vor, mit weihnachtlichen Heimlichkeiten
beschäftigt zu sein. Stattdessen sah er sich online Videos von
Modellflugzeugen an, die in spektakulären Landschaften ihre Kreise
zogen. So frei und unbeschwert über allem zu schweben, das wäre
sein Herzenswunsch, wenn er denn auf Erfüllung hoffen könnte.
Vielleicht würde er ja im nächsten Leben als Vogel wiedergeboren?
Als stolzer Adler, der die Welt von oben betrachtete, aus einer
Perspektive, die die alltäglichen Sorgen der Menschen lächerlich
klein erscheinen ließ.
Walburga
akzeptierte seinen Rückzug und ließ ihn in Ruhe. Wahrscheinlich war
sie sogar froh, ganz nach ihrer Vorstellung im Hause schalten und
walten zu können. Wenn er freihatte, kam er sich manchmal so störend
und überflüssig vor.
Kurz vor
fünfzehn Uhr hämmerte der achtjährige Leon an die Tür des
Arbeitszimmers, bevor er sie weit aufriss.
„Papa!“,
krähte er. „Mama sagt, du sollst dich umziehen. Die Omas und Opas
werden gleich hier sein.“ Mit lautem Getrampel verschwand er
wieder, ließ die Tür offen stehen. Nachdenklich blickte Johannes
seinem Sohn hinterher.
Walburga
hatte den Kaffeetisch in der guten Stube festlich gedeckt. Der Raum
war aus Rücksicht auf die immer frierenden Großmütter um
mindestens fünf Grad überheizt. Seit Leon letztes Jahr verkündet
hatte, kein Baby mehr zu sein, das noch an den Weihnachtsmann
glaubte, blieb Johannes zumindest die Maskerade mit dem klebrigen,
kitzelnden Wattebart erspart. Der Geschenkberg lag bereits
gleichmäßig unter dem symmetrischen
Baum verteilt. Trotzdem hatte Johannes das Gefühl, Teil irgendeiner
Soapopera zu sein, wie Walburga sie sich gern im Fernsehen ansah.
Seine Schwiegereltern hatten ihm bis heute nicht verziehen, dass er,
ein einfacher Bankangestellter, ihre Tochter geheiratet und ihr damit
die Chance, sich einen Chefarzt zu angeln und Frau Doktor
zu werden, genommen hatte. Seine eigenen Eltern dagegen konnten
Walburgas Eltern nicht ausstehen, weil diese sich ihrer Meinung nach
für etwas Besseres hielten, obwohl sie sich bis zur Rente mit ihrem
Malergeschäft gerade so über Wasser gehalten hatten. Die Stimmung
am Tisch war betont überfreundlich, die alten Damen redeten sich mit
„meine liebe Ingeborg“ und „meine allerliebste Luise“ an. Die
Großväter saßen schweigend dabei. Zeitweise glaubte Johannes ein
leises Knurren zu vernehmen, bis nach dem Kaffee der Obstler
eingeschenkt wurde und ihre Freundlichkeit sich auf „Prost Alfred“
und „Prost Norbert“ erweiterte, während sie sich ansahen, als ob
sie sich am liebsten gegenseitig an die Kehle sprängen.
Walburga
bestand, wie jedes Jahr, darauf, dass die Kinder musizierten.
Johannes sah die Resignation in den Augen von Leon und Rebecca, als
sie ihre Instrumente holen gingen. Die Elfjährige entlockte mit
missmutigem Gesicht der Geige Töne, die mit etwas gutem Willen als
Melodie durchgehen konnten. Leon mit seiner Blockflöte dagegen
schien keinen einzigen Ton von „Oh Tannenbaum“ richtig zu
treffen. Als wenn das nicht schon grauenvoll genug wäre, stimmten
nun Walburga und die Großeltern gemeinsam singend mit ein. Da die
Melodie jedoch schon falsch vorgelegt war, trafen auch sie nicht die
richtigen Töne und es klang einfach nur jämmerlich. Johannes
schwieg. Sein Blick wanderte entsetzt und auch irgendwie hilflos von
einem zum anderen. Sah, wie sie in ihren Rollen gefangen schienen. Er
fühlte sich so fremd. Was tat er hier? Plötzlich kamen seine Augen
zur Ruhe. Durch das große Blumenfenster sah er hinaus in den Garten,
der um diese Tageszeit im Dezember stockfinster daliegen sollte.
Jetzt schien er in ein eigenartiges, verheißungsvolles Licht
getaucht zu sein. Es hatte zu schneien begonnen.
„Stille
Nacht, Heilige Nacht“. Johannes fühlte eine Unruhe in sich, ein
Kribbeln und Prickeln, noch viel stärker als das Gefühl, das ihn
heute früh aus dem Bett getrieben hatte. Er musste da raus. Jetzt!
Egal, was die Familie von ihm dachte.
Entschlossen
sprang er auf, flüsterte der verdutzt im Singen innehaltenden
Walburga ins Ohr „Ich muss mal raus“ und verließ, ohne sich noch
einmal umzudrehen, die gute Stube. Hinter ihm ging das Musizieren
unterbrechungslos weiter, auch Walburgas Stimme war nun wieder
deutlich zu hören: „… Gottes Sohn, oh, wie lacht ...“. Fast
ohne stehen zu bleiben, sprang Johannes in seine Stiefel, riss die
Jacke vom Haken und setzte sich die Pudelmütze auf den Kopf.
Andächtige Stille umfing ihn, kaum dass die Haustür hinter ihm ins
Schloss gefallen war. Die Flocken schwebten lautlos zur Erde nieder,
bedeckten die Welt mit einem feierlichen, weißen Kleid. Johannes
atmete tief ein. Das
war Weihnachten, dieser Frieden hier draußen. Die Schneedecke war
noch nicht sehr dick, höchstens einen Zentimeter, schätze er. Alles
Licht des frühen Abends fing sich in dieser weißen Decke, wurde von
ihr zurückgeworfen, und erfüllte so die Welt ringsum mit einem
unwirklichen, friedlichen Leuchten. Johannes lief einfach los, folgte
der schmalen Landstraße, die sich hinter dem Dorf den Hügel hinauf
wand, dem Walde zu. Seine Stiefel hinterließen deutliche Abdrücke
im Schnee, ein Fußabdruck nach dem anderen, wie Perlen auf einer
Schnur. Ansonsten sah die weiße Decke ringsum rein und unberührt
aus, nicht einmal winzige Spuren von Vögeln oder Mäusen konnte er
erblicken. Kurz vor dem Waldrand säumten nun hohe, alte Obstbäume
die Straße, und streckten ihre kahlen, dunklen Kronen wie zerzauste
Köpfe zum Himmel empor.
Eine zweite
Spur tauchte auf. Johannes blieb verwundert stehen. Diese Spur war
frisch, genau so deutlich sichtbar wie seine. Die Fußabdrücke
hatten sich ebenso komplett durch die dünne Schneedicke gedrückt
und ließen den dunklen Asphalt der Straße hindurchschimmern. Nur
lief diese Spur nicht parallel, wie seine, am Straßenrand entlang,
sondern im Kreis, über die gesamte Straßenbreite. Dabei schien sie
aus dem Nichts zu kommen und im Nichts zu enden – es gab keine
Fußabdrücke, die zu dem Kreis hin oder aus ihm herausführten.
Lediglich in der Mitte des Kreises waren ebenfalls drei Abdrücke
eines Fußpaares zu sehen, und zwar so schräg versetzt zueinander,
als hätte ein Kind Hüpfen gespielt. Johannes schüttelte den Kopf.
Hier war doch niemand über den Schnee herbei geschwebt? Oder hatte
bei Beginn des Schneefalls regungslos am Straßenrand verharrt, bis
die Schneedecke die Dicke von einem Zentimeter erreicht hatte? Und
wohin war dieser jemand verschwunden – spurlos?
Fast von
allein folgten Johannes Füße den Spuren, setzte er seine Stiefel –
rechts, links, rechts – genau in die Abdrücke hinein und lief den
Kreis ab. Dabei fielen ihm noch zwei weitere Merkwürdigkeiten auf:
Die Fußabdrücke waren deutlich kleiner als seine und sie hatten
keinerlei Profil, sonder glatt und sanft auslaufende Ränder, als sei
hier jemand auf Socken unterwegs gewesen. Socken? Bei dieser Kälte?
Johannes lief allein bei der Vorstellung, hier nur auf Strümpfen
zu laufen, ein Schauer über den Rücken. Nun blieb er
stehen, war einmal im Kreis den seltsamen Spuren gefolgt und hatte
seine eigene, gerade Spur wieder erreicht. In der Ferne hörte er die
Kirchenglocken läuten, aber da war noch etwas. Fast klang es wie ein
leises Kichern, und es schien ganz aus der Nähe zu kommen.
„Hallo?“
Irgendwie kam er sich albern vor, trotzdem rief Johannes.
Wieder glaubt
er ein Kichern zu hören, konnte aber niemanden entdecken.
„Ist da
jemand?“
Jetzt hörte
er es ganz deutlich – da lachte jemand! Es war ein glucksendes,
fröhliches Lachen und es kam von irgendwo oben. Er legte den Kopf in
den Nacken, kniff die Augen zusammen und sah prüfend hinauf zu den
kahlen Baumwipfeln. Das konnte nicht sein, oder? Eine kleine, dunkle
Gestalt hockte dort auf einem Ast, genau über ihm! An dem einen
Obstler, den er mit den Großvätern getrunken hatte, konnte es wohl
nicht liegen, dass Johannes plötzlich Gespenster sah. Wieder ertönte
das glucksende Lachen, und es klang überhaupt nicht gefährlich,
eher ansteckend. Johannes' Mundwinkel begannen ebenfalls zu zucken,
je mehr ihm die Absurdität der Situation bewusst wurde. Aus dem
Zucken wurde ein Grinsen, das breit und breiter wurde, bis der Mann
von einem herzhaften und befreienden Lachen geschüttelt wurde. Er
konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so fröhlich
gefühlt hatte.
„Wer bist
Du?“, fragte er, wie es ihm vorkam, Minuten später, während er
sich die Lachtränen aus den Augen wischte.
„Komm
herauf, dann erzähle ich es Dir!“, forderte ihn das auf dem Ast
hockende Wesen freundlich auf.
„Wie?“
Johannes schaute skeptisch auf den Baum mit seinen langen, aber nicht
unbedingt sehr dicken Ästen.
„Spring!“
Na klar. Er
würde jetzt aus dem Stand einfach etwa drei Meter hoch auf den Baum
springen. Johannes blickte amüsiert auf das seltsame Wesen, das er
immer noch nur schemenhaft erkennen konnte. Der Teil von ihm, der
sich noch an den kleinen Jungen erinnerte, der er einst gewesen war,
wollte dieses lustige Spiel mitspielen. So sprang er – nur zum Spaß
– und fand sich im nächsten Augenblick hoch oben im Baum, auf
einem Ast hockend wieder. Neben ihm saß eine kleine, zottelige
Gestalt, blickte ihn mit großen, dunklen Augen erfreut an und
streckte ihm eine haarige Hand entgegen.
„Ich bin
Walter.“
„Angenehm,
Johannes.“ Als wäre es die normalste Sache der Welt, hockte er
also am Weihnachtsabend neben einem haarigen Wesen im Apfelbaum und
machte Small Talk. Johannes kicherte schon wieder, als er sich
vorstellte, seine Familie könnte ihn jetzt so sehen. Aus der Nähe
betrachtet, wirkte Walter wie ein Riesenkuscheltier. Sein ganzer
Körper war mit dunkelbraunem, zotteligen Pelz bedeckt, selbst die
Handoberflächen waren komplett behaart, ähnlich wie die Pranken
eines Gorillas. Das Gesicht dagegen war
eindeutig menschlich. Diese freundlichen, wissenden Augen und die
wettergegerbten Gesichtszüge, erinnerten Johannes an einen weisen
alten Mann. Sein Blick wanderte an Walters Beinen hinab.
„Du trägst
Socken?“
„Ja, ich
krieg' sonst kalte Füße.“
„Verstehe.“
Worüber
redete man mit so einem Wesen? Doch wohl kaum über Socken. Johannes
war ein wenig ratlos und deshalb schwieg er. Hockte neben Walter auf
dem Ast und sah hinab auf die verschneite Landschaft, die sich weiß
und unschuldig bis zum Horizont erstreckte.
„Du bist
meinen Spuren gefolgt“, stellte Walter fest.
„Ich dachte
mir gerade, dass du das gewesen bist.“ Johannes lachte leise auf.
„Wie die Kinder ...“
„Nur wer
meinen Spuren folgt, kann mich sehen.“ Walters ernster Blick ruhte
auf Johannes, der ihn fragend ansah und hoffe, es würden weitere
Erklärungen folgen.
„Es war
1942. Damals war ich gerade achtzehn und sehr verliebt in Anna. Wir
lebten beide da vorn, im gleichen Dorf wie du“. Walters haarige
Pranke deutete hinüber zu den mit dünnen weißen Tüchern aus
Schnee überzogenen Dächern. „Dann bekam ich meinen
Einberufungsbefehl, sollte an die Front und dort solange Menschen
töten, bis ich selbst fallen würde. In meiner Angst, alles zu
verlieren – das Leben, die Heimat und die Liebe – lief ich
ziellos durch die Gegend, geradeaus, im Kreise, zickzack. Verzweifelt
suchte ich nach einem Ausweg, doch ich wusste, ich konnte mich dem
Befehl der Wehrmacht nicht widerziehen. Bis ich, ähnlich wie du
gerade, von oben eine Stimme hörte, die beruhigend zu mir sprach.
Das war Friedrich und er sah genauso aus, wie du mich jetzt vor dir
siehst.“
Walter hielt
inne und sah Johannes prüfend ins Gesicht. Der saß einfach nur da,
lauschte, staunte, jedoch lag keine Spur von Unglauben in seinen
Augen. So fuhr Walter fort.
„Das hier
oben ist ein eigenes, kleines Reich. Unsichtbar und unerreichbar für
die meisten Menschen. Ich bin einer seiner Wächter.“
„Was für
ein Reich ist das?“
„Das Reich
von Flederhausen. Willst Du es sehen? Doch sei gewarnt. Nachdem
Friedrich es mir gezeigt hatte, entschied ich, zu bleiben.“
Johannes
lachte kurz auf. Er, der seit Jahren tat, was man von ihm erwartete -
und er tat es gut – er sollte entscheiden, nicht
zurück zu wollen? Zwei Seelen spürte er in seiner Brust. Der kleine
Junge war bereit, vorwärts zu stürmen, mitten hinein in das
Abenteuer, das er vor sich glaubte. Der erwachsene, reife und
vernünftige Mann war gerade resigniert geflüchtet, vor dem, was ihn
schon lange nicht mehr glücklich machte. Wollten nicht beide Seelen
das Gleiche? Sein Körper straffte sich, er atmete einmal tief durch
und sprach:
„Zeig es
mir!“
Walter hob
stumm die Hand wie zu einem Zeichen.
Ein Raunen
erhob sich, schwoll an zu einem Rauschen und Flattern. Von allen
Seiten näherten sich schattenhafte Gestalten, die Johannes nur
undeutlich erkennen konnte. Gleichzeitig fühlte er, wie er sich
veränderte. Er schien etwas zu schrumpfen, nicht viel, aber
spürbar. Seine Hände dagegen wuchsen, wurden immer mehr zu Pranken,
so wie die von Walter. Haare, unendlich viele dunkle Haare überzogen
seine Handoberflächen, wanderten die Arme hinauf und bedeckten kurze
Zeit später seinen gesamten Körper. Seine Jacke, seine Stiefel, ja,
selbst die Pudelmütze von seinem Kopf, sie waren einfach fort.
Stattdessen umhüllte ihn weiches, warmes Fell, sodass er Walter nun
verblüffend ähnlich sah. Auch seine Augen schienen sich zu
verändern. Mit einem Mal sah er die Welt ringsumher mit einer
Klarheit und Schärfe, wie nie zuvor in seinem Leben. Und nicht nur
seine Welt – die schneebedeckten Felder, das Dorf im Hintergrund,
die Straße, die er gegangen war. Nein, er war nun Teil einer
anderen, für ihn völlig neuen Welt. Stimmgewirr umgab ihn, die
vielen herbeigeeilten Schatten waren deutlich erkennbare Gestalten
geworden, deren Anblick ihn kopfschüttelnd grinsen ließ.
Er sah einen
Hasen, ein Reh, einen Fuchs, einen Dachs, einen Waschbären, ein
Maus, einen Igel und sogar einen Wolf, auf dessen Rücken ein
Maulwurf hockte. Es schien keine Feindschaft zwischen ihnen zu geben,
sie alle saßen friedlich miteinander neben Walter und Johannes in
der Krone des Baumes, wo es nun ziemlich eng geworden war. Und –
sie alle hatten Flügel.
„Was …“
Johannes fehlten die Worte.
„Das sind
ein paar der Bewohner Flederhausens, die zu Deiner Begrüßung
erschienen sind.“ Walters haarige Hand zeigte in weitem Bogen in
die Runde.
Was
nun folgte, erinnerte Johannes an die Märchen seiner Kindheit. Die
Tiere sprachen! Sie stellten sich einzeln vor, nannten Namen wie
Hubert Flederhase,
Franz Flederfuchs oder
– an dieser Stelle konnte Johannes sein Lachen nicht mehr
zurückhalten – Wilhelmine Flederwaschbär.
Letztere schaute den Gast mit glänzenden schwarzen Knopfaugen so
treuherzig an, dass er ihr liebsten immer wieder über den Kopf
gestrichen hätte. Sein Respekt vor diesen sprechenden und damit
intelligenten Wesen hielt ihn jedoch zurück. Obwohl er im
Hintergrund immer noch die Dächer seines Dorfes sah, kam Johannes
sich vor, wie Alice oder Elli, beim Betreten einer völlig anderen,
verzauberten Welt. Nein, er träumte nicht, das hier passierte
wirklich. Er erfuhr, dass all die Fledertiere in den Wipfeln des
Waldes und der Obstbäume ringsumher lebten. Ihre Behausungen waren,
wie sie selbst, für die Menschen unsichtbar.
Walter sah
ihn prüfend und auch irgendwie erwartungsvoll an: „Wenn du
entscheidest zu bleiben, wirst du noch viel mehr sehen.“
„Zeigst Du
es mir?“
„Nein, es
kann nur einer von uns bleiben. Dass du mich entdeckt hast, war nach
den vielen Jahren eine der beiden Möglichkeiten für mich,
zurückzukehren in die Menschenwelt. Ich habe lange genug hier
gelebt, um vieles zu sehen, das mich glücklich gemacht hat. Doch
nicht lange genug, um die kleinen Freuden des Menschseins zu
vergessen. Nun, auf meine alten Tage, sehne ich mich nach einer Tasse
Tee, dem Duft frisch gebackenen Brotes, einem weichen Bett und ...“
Seine Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck, als er hinzufügte:
„... der zarten Berührung einer Frau.“
„Weißt Du,
was aus Anna geworden ist?“
Walter
zögerte einen Moment, bevor er sprach: „Sie heiratete nach dem
Krieg und zog fort. Ich bin sicher, sie hatte ein glückliches
Leben.“
Johannes
überlegte. So verlockend es auch klang, hier zu bleiben und diese
zauberhafte Flederwelt zu entdecken, er trug doch auch Verantwortung.
In der Bank kämen sie zwar ohne ihn zurecht, aber was wäre mit
Walburga und den Kindern? Sie einfach so allein lassen? Das konnte er
nicht. Als hätte Walter seine Gedanken erraten, sprach er leise
weiter: „Deine Familie wäre nicht allein. Ich ginge als DU
zurück.“
„Dann ging
Friedrich damals …?
„Ja, er zog
statt meiner in den Krieg. Wie durch ein Wunder überlebte er.
Vielleicht war es ja auch der Schutz der Fledergeister, wer weiß.
Jedenfalls war er es, in meiner Gestalt, unter meinem Namen, der Anna
heiratete und mit ihr fortzog. Sie hat ihm all ihre Liebe gegeben.
Und ich habe
ihm vertraut – sie ihm anvertraut.“
Sie sprachen
noch lange, über Verantwortung, Flucht, Liebe und den Sinn des
Lebens. Johannes erfuhr wichtige Dinge über den Alltag in
Flederhausen und konnte sich immer mehr vorstellen, hier zu bleiben.
„Was genau
muss ich als Wächter tun?“, fragte er und in diesem Moment wusste
Walter, dass er sich bereits entschieden hatte. So jubelte er
innerlich, als er Johannes erklärte, wie der Wächter mithilfe der
Fledertiere über die Natur ringsum wachen und dafür sorgen sollte,
dass die Pflanzen wuchsen und reiche Ernte trugen, dass die Tiere des
Waldes immer genug Nahrung fanden und dass am Wegesrand Blumen
blühten, an denen die Menschen sich erfreuten konnten.
„Wirst Du
ab und zu herkommen, damit ich Dich um Rat fragen kann?“, wollte
Johannes wissen.
„Nein, das
wird nicht nötig sein. Von den Fledertieren erfährst Du alles, was
Du wissen musst.“ Walter schluckte. „Ich mag Dich. Aber ich werde
Flederhausen vergessen, sobald ich Deine menschliche Gestalt
angenommen habe.“
„Und wenn
ich irgendwann zurückkehren will, in die Menschenwelt, so wie Du?“
Ein kleiner Zweifel blieb in Johannes, noch.
„Du hast
zwei Möglichkeiten. Du kannst warten, bis jemand in Deine Fußstapfen
tritt, genau Deinen Spuren folgt, so wie Du es mit meinen getan hast.
Oder Du kannst dichten.“
„Dichten?“
Johannes sah Walter fragend an.
„Ja,
ersinne genau einhundert Verse über Flederhausen und seine
zauberhaften Bewohner und Du wirst sofort in menschlicher Gestalt in
die Welt dort unten zurückkehren.“
„Warum hat
Du das nicht getan?“
„Ich bin
Bauer. Dichten kann ich nicht, aber warten.“
Damit war
alles gesagt. Die beiden zotteligen Gestalten umarmten sich und sahen einander noch einmal tief in die Augen.
„Viel Glück
in Flederhausen“, sagte Walter.
„Viel Glück
in meinem Leben“, antwortete Johannes.
Walter
sprang.
Der Schnee
hatte alle Fußabdrücke von vorhin wieder zugedeckt. Der Mann zog
den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Ende hoch und die Pudelmütze
tief ins Gesicht. Er lief jetzt gegen den Wind und die Schneeflocken
stoben ihm ins Gesicht, auf dem ein glückliches Lächeln lag, als er
auf das Dorf zuging. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um,
blickte nicht zurück. Warum auch.
Seine Spur
schien aus dem Nichts zu kommen ...
Walburga!! Doller Name!! Da habe ich gleich gelacht! ;o) Tränen sind mir fast gekommen, als der schöne Baum gestutzt, die Arbeit des Mannes nicht gewürdigt wurde und sie seine Freude nicht teilen konnte! Naja, aber gleich die Gesellschaft der Menschen zu verlassen, dazu hätte ich mich sicher nicht entschieden, aber 'ne tolle Idee... ;o)
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