Weil gerade Hanse Sail ist ... (8.8. bis 11.8.2013 in Rostock)
...gibt es hier noch einmal meine Hanse Sail-Geschichte vom letzten Jahr. Die Geschichte könnt Ihr, neben vielen anderen, auch in meinem Buch "Nach(t)Sicht - Gute Nacht Geschichten für Erwachsene" lesen. Viel Spaß beim "Tanz mit dem Klabautermann":
Die
Möwen fliegen mit protestierendem Kreischen auf, als Maike auf ihrem
Fahrrad um die Ecke schießt, am Imbissstand vorbei, wo die Vögel an
den Resten eines Fischbrötchens herumgezerrt haben. Sie ist spät
dran und will nicht schon wieder eine Rüge kassieren. „Schiet!“
Der Fahrstuhl fährt ihr vor der Nase weg, doch anstatt zu warten,
rennt sie fluchend die Treppen hinauf. Das Geschimpfe lässt
allerdings von Etage zu Etage nach, denn sie braucht ihren Atem zum
Laufen. Keuchend zieht sie die Tür im 7. Stock auf, streicht sich
die kurzen schwarzen Haare aus der verschwitzen Stirn und beeilt
sich, an ihren Schreibtisch zu kommen. Sie fährt den Computer hoch,
setzt das Headset auf und meldet sich an. Zehn Uhr zweiunddreißig
zeigt der Bildschirm vor ihr. Na ja, fast geschafft!
„Traumsegler
Rostock, Maike Övelgönne. Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“,
begrüßt sie den ersten Anrufer, der zu ihr durchgestellt wird. Es
ist ein älterer Herr, der bei der Hanse
Sail
als Gast mitfahren möchte.
„Äwer
man bloot de Warnow rup unn rünner, mien Fru ward so fix seekrank“,
schränkt er vorsichtig ein. Maike ist wieder einmal froh, dass ihre
Großeltern auch Plattdüütsch
snacken
und sie so von klein auf gelernt hat, diese urige Sprache zumindest
zu verstehen. Schnell sucht sie dem freundlichen Herrn ein paar
Angebote heraus. Er hat Glück, denn die meisten Kunden wollen
möglichst weit auf die Ostsee hinaus segeln und die schönen alten
Segler sind längst ausgebucht. Aber eine Fahrt mit der Barkasse, bis
zum Seehafen und zurück, ist genau das Richtige für ihn. „Schön
Dank mien Diern“,
verabschiedet er sich froh. Leider sind die nächsten Anrufer nicht
so freundlich. Etliche werden sauer, als sie erfahren, dass die
gewünschten Mitsegeltouren ausgebucht sind. Ein Berliner Anrufer
unterstellt ihr gar, privat Karten unter der Hand zu überhöhten
Preisen zu verkaufen.
Erleichtert
geht Maike in die späte Mittagspause, froh, dem täglichen Wahnsinn
für eine dreiviertel Stunde zu entrinnen. Wie immer verbringt sie
diese Zeit mit ihrer besten Freundin und Kollegin Wiebke, die auch
bei „Traumsegler“ arbeitet, allerdings in der Buchhaltung. Beide
Frauen sind zwar gleich alt, könnten aber gegensätzlicher nicht
sein. Maike ist groß, schlank und sportlich. In Jeans und weißem
T-Shirt sieht sie immer ein wenig aus, wie einem amerikanischen Film
entstiegen. Wiebke dagegen ist der mütterliche Typ. Klein, rundlich,
mit dauergewellten Löckchen auf dem Kopf, die Maike manchmal
scherzhaft als „Mutti-Frisur“ bezeichnet. Immerhin ist Wiebke ja
auch Mutter zweier kleiner Kinder, fünfjähriger Zwillinge,
derentwegen sie nur stundenweise in Gleitzeit arbeitet.
Weil
so schönes Wetter ist, holen sich die Freundinnen ein
Backfischbrötchen vom Imbiss und schlendern am Stadthafen entlang.
Von hier hat man einen guten Blick auf die Rostocker Altstadt, die
großen Speicher, in denen sich auch ihre Büros befinden und über
die Warnow, hinüber nach Gehlsdorf. Kleine Segelboote ziehen an
ihnen vorbei, Kinder mit Schwimmwesten steuern mit konzentrierter
Miene ihre Optimisten
durch die Wellen.
„Au
Mann, es ist fünf vor zwölf!“ entfährt es Maike plötzlich.
Wiebke schaut
sie entgeistert an. „Nein, es ist dreiviertel drei“, korrigiert
sie mit einem Blick auf ihre Uhr.
„Du
Huhn!“ Maike lacht. „Ich meine doch nicht die Uhrzeit, sondern
meine innere Uhr. Ich werde nächste Woche dreißig. Und meine Oma
sagt: Weg
Diern bet dörtig keen Keerl hett, de fin‘nt nie nich eenen!“
„Deine
Oma ist in einer ganz anderen Zeit groß geworden. Die hatte mit
dreißig bereits vier Kinder. Und du bastelst noch an deiner
Karriere, hast dich doch gerade erst um die Stelle als
Abteilungsleiterin beworben.“
„Meinst
du, ich hab da eine Chance?“
„Klar!
Du hast die nötigen Qualifikationen, kennst den Laden seit Jahren.
Warum sollten sie jemanden von außen holen, wenn sie den Posten
intern besetzen können?“
Maike wiegt
zweifelnd den Kopf hin und her. „Bei meinem Pech sehe ich mich noch
als Fünfzigjährige mit dem Headset da hocken. Und zu Hause warten
dann höchstens der Fernseher und sieben Katzen.“
Wiebke bleibt
abrupt stehen, fasst ihre Freundin am Arm und dreht sie zu sich
herum. „Jetzt hör mir mal zu. Alles wird gut! Eigentlich wollte
ich dich ja nächste Woche überraschen, aber du brauchst die
Aufmunterung wohl jetzt schon - ich hab für uns zwei Plätze auf der
GULDEN LEEUW!“
„Was?“
Maike springt Wiebke vor Freude um den Hals. „Auf dem holländischen
Dreimast-Topsegelschoner? Siebzig Meter lang, eintausendvierhundert
Quadratmeter Segelfläche. Ein Traum von einem Schiff!“
„Ja,
ja, ich sehe, du hast deine Hausaufgaben gemacht.“ Wiebke lacht nun
auch. „Die dreihundert möglichen Partygäste hast du vergessen.
Wer weiß, vielleicht findest du dort deinen Traummann.“
„Wohl
eher den Klabautermann,
aber ich freu mich trotzdem riesig. Dann segeln wir ja in meinen
Geburtstag hinein.“
***
Mit gemischten
Gefühlen sieht Maike dem kommenden Freitag entgegen. Einerseits
freut sie sich wirklich auf die Segeltour, andererseits gehen ihr die
Worte ihrer Oma nicht aus dem Kopf.
***
Endlich ist es
soweit. Der Freitagmorgen verspricht einen schönen Sommertag. Maike
hat Frühschicht und radelt schon um halb acht durch die Kröpeliner
Tor Vorstadt in Richtung Warnowufer und Stadthafen. Sie liebt dieses
Viertel mit seinen alten Häusern und den schmiedeeisernen Balkonen
davor. Die großen Bäume spenden Schatten, von der Küste weht immer
ein leichter oder auch stärkerer Wind und trägt den salzigen Geruch
des Meeres mit sich. Bei ihrem Lieblingsbäcker hält sie kurz an und
kauft zwei Hanseaten, einen für Wiebke und einen für sich. Sie war
schon als Kind ganz vernarrt in diese mit Marmelade zusammengeklebten
großen Kekse, wahrscheinlich wegen der lustigen Glasur - eine Hälfte
mit weißem, die andere mit rosa Zuckerguss. Im Büro bleibt noch
Zeit für ein Schwätzchen mit Wiebke in der Küche. Dabei dreht sich
alles um die Segeltour heute Abend. Maike wischt sich gerade die
letzten Zuckergusskrümel vom Mund, da geht die Tür auf und Herr
Nielsen, der Geschäftsführer kommt herein.
„Guten
Morgen. Frau Övelgönne, wenn Sie fertig sind, kommen Sie bitte in
mein Büro!“ Und schon ist er wieder draußen.
„War
das jetzt gut oder schlecht?“, will Maike wissen. „Sag schon, es
geht bestimmt um meine Bewerbung.“
„Denk
positiv, Süße!“, muntert die Freundin sie auf. „Geh gleich zu
ihm, dann weißt du mehr.“
Eine positiv
denkende, selbstbewusst ausschreitende Maike betritt Nielsens Büro.
Ein geknicktes Etwas kommt eine Viertelstunde später wieder heraus.
„Ach
herrje, so schlimm?“ Wiebke, die vor dem Büro gewartet hat, nimmt
die Freundin in den Arm.
„Schlimmer!“,
schluchzt Maike.
„Du
hast die Stelle nicht bekommen?“
„Ich
hab gar keine Stelle!“
„Was?“
Wiebke bleibt vor Entsetzten der Mund offen stehen. „Ist nicht
wahr, oder?“
„Doch.
Die ausgeschriebene Stelle wird nun doch extern vergeben. Ich wäre
einerseits unpünktlich, andererseits für die jetzige Tätigkeit
überqualifiziert und würde bestimmt anderswo, meinen Fähigkeiten
entsprechend ...“ Der Rest geht in Schluchzen unter.
Später, in
einem kleinen Café am Marktplatz, mit Blick auf das siebentürmige
Rathaus, sitzen die Freundinnen mit ernsten Gesichtern über ihrem
Cappuccino.
„Meinst
du, es war klug, zu sagen, wenn ich schon gehen muss, dann sofort?“
Wiebke blickt ihre neue Ex-Kollegin fragend an.
„Ja,
glaubst du denn, ich bin noch motiviert, für die da irgendwas zu
machen?“ Entrüstet deutet Maike mit der Hand in Richtung
Stadthafen und senkt im nächsten Moment seufzend den Blick auf die
kleine Plastiktüte mit persönlichen Dingen, die sie von ihrem
Schreibtisch mitgenommen hat. Sie fühlt sich hin und her gerissen,
schwankt zwischen Bedauern und Trotz.
„Viereinhalb
Jahre, und das ist alles, was bleibt.“
„Ach
komm, wenn die das so sehen, haben sie dich wirklich nicht verdient“, versucht Wiebke ihre Freundin aufzumuntern. „Es kommt bestimmt
etwas viel Besseres.“ Sie schaut auf die Uhr. „Leider muss ich
nun wirklich ins Büro. Wir sehen uns heute Abend auf der GULDEN
LEEUW und dann segeln wir deinem neuen Glück entgegen.“
„Och,
ich weiß gar nicht, ob ich dazu noch Lust habe. Vielleicht sollte
ich lieber Stellenanzeigen studieren und Bewerbungen schreiben.“
Maike sieht ihre Freundin fragend an.
„Das
kannst du übermorgen immer noch tun. Jetzt wollen wir deinen
Geburtstag feiern und Spaß haben. Gut gelaunt schreibt man
erfolgreichere Bewerbungen, das ist eine Tatsache. Ich hol dich ab,
um 17 Uhr“, verspricht Wiebke. „Und keine Widerrede. Bis dahin tu
dir was Gutes.“
Sie umarmt
ihre Freundin noch einmal und tippelt davon, ins Büro, zu ihren
Zahlen.
Maike
schluckt. Wie sehr hat Wiebke sich gefreut, sie mit dieser Segeltour
zu überraschen. Den Spaß darf sie ihr jetzt nicht verderben. Watt
mutt, dat mutt...
. Und
wahrscheinlich hat die Freundin recht, was den Erfolg gut gelaunter
Bewerber angeht.
Bereits um
halb fünf klingelt es an Maikes Tür. Sie öffnet im Bademantel, die
Haare noch nass vom Duschen.
„Du?
Jetzt schon?
„Ich
wollte sicher sein, dass du rechtzeitig fertig bist.“ Wiebke umarmt
die Freundin so herzlich, als hätten sie sich tagelang nicht
gesehen. „Peter ist bei den Kindern, da konnte ich eher los.“
„Dein
Mann ist ein Schatz“, seufzt Maike. „Wenn mir doch nur so jemand
begegnen würde!“
Arm in Arm
bummeln sie wenig später in Richtung Warnow. Je näher sie dem Ufer
kommen, desto mehr Menschen sind unterwegs. Der ganze Stadthafen ist
ein einziges Volksfest. Karussells und Andenkenbuden reihen sich in
bunter Abwechslung zwischen Bier- und Imbissständen ein. Eine
schwere Wolke schwebt unsichtbar über dem Festgelände, vereint den
Geruch von Pommes, Würstchen und Räucherfisch mit den Ausdünstungen
von Aftershave und Sonnenöl. Das bunte Gewimmel wird von einem
gewaltig hohen Riesenrad überragt.
„Von
dort oben kann man bestimmt das Meer sehen“, ruft Maike, um das
Getöse ringsum mit ihrer Stimme zu übertönen. Ihre Augen leuchten
vor Begeisterung. Die trüben Gedanken des Vormittags sind vergessen,
jetzt sind sie hier und wollen Spaß haben.
Sie lassen
sich von den Menschenmassen treiben, immer am Kai entlang, wo die
stolzen Segler liegen, die heute Abend noch mit ihren Gästen
auslaufen werden.
Dabei kommen
sie nur langsam voran, bleiben immer wieder stehen, um die Schiffe zu
bewundern. Maike kennt sie alle, zumindest in der Theorie, hat
unzählige Male den Kunden am Telefon davon erzählt.
Und dann
betreten sie die GULDEN LEEUW. Der schöne Dreimaster hat ein
riesiges Deck, auf dem sich alle Gäste gleichzeitig aufhalten
können. Mit einem Glas Sekt in der Hand erkunden die Freundinnen das
Schiff. Nur wenig später ertönt, laut und kraftvoll, die Stimme des
Kapitäns, der sie mit nettem holländischen Akzent an Bord begrüßt.
Die Freundinnen kichern, denn mit seinen langen blonden Haaren, der
sonnengebräunten, wettergegerbten Haut und dem Ring im Ohr, erinnert
er sie eher an einen Rockmusiker, als an einen Käpt‘n. Als die
Leinen gelöst werden und sie sich vom Ufer fort bewegen, spürt
Maike, wie in ihr auch die letzte Anspannung verfliegt. Das hier ist
ihr Abenteuer.
Ein leichter
Wind trägt sie mit wenig Segel die Warnow hinab. Das Wasser
plätschert leise. Am Ufer ziehen erst die Backsteinhäuser der
Altstadt vorbei, dann die Vororte mit ihren Betonburgen. Andere
Segler, große und kleine, nehmen den gleichen Kurs. Alle haben nur
ein Ziel - hinaus aufs Meer. Möwen folgen ihnen kreischend. Überall
winken fröhliche Menschen. Je näher sie der Ostsee kommen, desto
frischer weht der Wind. Sie lassen den Seehafen rechts liegen, grüßen
den Leuchtturm und den Teepott von Warnemünde und dann werden nach
und nach alle Segel gesetzt. Weiße Gischt spritzt hoch auf, kleine
Tropfen treffen die Freundinnen im Gesicht, als diese lachend über
die Reling schauen. In der Ferne leuchten Nebelschwaden strahlend
weiß, wie Geister, die auf den Wellen tanzen. Nun fliegt die GULDEN
LEEUW übers Meer, die anderen, kleineren Segler hinter sich
zurücklassend. Auch die Gebäude am Ufer, die Kräne der Werft im
Hintergrund, werden kleiner und kleiner.
„Danke
Wiebke, das ist wirklich das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich
je bekommen habe“, strahlt Maike.
Musik erklingt
vom Bug des Schiffes. Da steht nun ein echter Seebär mit Krausebart,
Mütze und Pfeifchen im Mundwinkel. Genüsslich schmauchend spielt er
alte Seemannslieder auf dem Schifferklavier, das er sich umgehängt
hat. Das Publikum ringsum ist begeistert, die ersten Gäste beginnen
tatsächlich, auf dem schwankenden Deck zu tanzen.
„Komm
mit!“ Wiebke zieht ihre Freundin durch die große Flügeltür ins
Deckhaus hinein. „Da tanzen doch nur die Ollen. Lass uns mal
schauen, was an der Bar los ist.“
Sie finden
tatsächlich einen freien Platz und bestellen zwei Caipiriña.
„Auf
alle, die noch neunundzwanzig sind!“ Maike prostet ihrer Freundin
zu.
„Auf
dass alles gut wird, wenn du dreißig bist,“ lacht diese.
Die Sorgen des
Vormittags scheinen an Land zurückgeblieben zu sein. Maike lacht und
albert mit Wiebke herum, lädt sie zu weiteren bunten Drinks mit
Schirmchen und Obstspieß ein. Dem Caipi folgt erst „Sex on the
Beach“, dann „Tequila Sunrise“.
„Ach,
das wär‘s“, träumt Maike. „Nicht mehr anderen den Traum vom
Segeln verkaufen, sondern selbst um die Welt segeln, ferne Länder
und Strände erkunden. Die Sonne hinter Palmen versinken sehen.“
„Als
Bardame?“ Wiebke verschluckt sich fast vor Lachen bei dieser
Vorstellung.
„Natürlich
nicht!“ Maike spielt die Entrüstete. „Eher als Piratenbraut“,
was erneutes Gelächter zur Folge hat.
„Vielleicht
war das mit den Cocktails doch keine so gute Idee.“ Wiebke ist
plötzlich ganz blass.
„Oh
je, wirst du etwa seekrank?“ Maike legt besorgt ihre Hand auf
Wiebkes Stirn. „Ganz kalt. Komm, wir gehen an die frische Luft!“
„Nee,
lass mal, da wackelt ja der ganze Horizont. Ich hab da hinten ein
paar Couchen gesehen, da würde ich mich gern hinlegen.“
Maike
begleitet die Freundin, findet eine Decke und deckt sie vorsichtig
zu.
„Besser?“
„Das
wird schon. Geh du dich ruhig amüsieren, es ist dein Fest.“
„Nein,
ich kann dich doch nicht allein lassen“
„Kannst
du wohl. Ich bin nicht allein, schau dich nur um.“
Sie hat recht.
Mittlerweile sind die wenigen Sofas belegt und keiner der Liegenden
sieht sonderlich glücklich aus. Zwei Damen der Crew gehen umher,
reichen Decken und Tee.
„Ich
komm gleich wieder“, verspricht Maike, als sie kurz vor Mitternacht
hinausgeht.
Sie hat Glück
und findet Platz auf einer der hölzernen Bänke. Das Deck ist voller
Menschen, die halblaut redend und lachend umherschlendern. Maike
schaut hinauf in den Sternenhimmel. Wunderschön, denkt sie. Eine
tiefe Ruhe umfängt sie, während sie sich vom Schiff sanft über die
Wellen getragen fühlt.
Der Seebär
scheint sein Programm der Stimmung angepasst zu haben. Statt der
Schunkel-Lieder trägt der Wind nun leise, seufzende, fast wehmütige
Musik an Maikes Ohr.
„Dörw
ik bidden?“
Sie schreckt
hoch und sieht in zwei strahlend blaue Augen. Vor ihr steht ein
großer, blonder Mann, der sie freundlich anlächelt und ihr
auffordernd seine rechte Hand entgegenstreckt. Gut sieht er aus,
sportlich und schlank. Maike schätzt ihn auf Mitte dreißig. Fast
automatisch ergreift sie seine Hand, die sich warm und rau anfühlt,
und lässt sich sanft emporziehen.
Dann tanzen
sie. Zu diesen zarten, wundervollen Klängen, mit wiegenden
Bewegungen, die sich nicht nur dem Rhythmus der Musik, sondern auch
dem der Wellen anpassen. Es ist ein Wiegen und ein Wogen, fast ein
Schweben. Niemand sonst hält sich mehr an Deck auf, sie sind die
einzigen Tänzer. Selbst der Seebär mit dem Akkordeon ist nicht mehr
zu sehen, nur die Musik klingt magisch durch die Nacht.
„Vertell
mi vun di“,
bittet der Fremde sie mit rauer, sanfter Stimme, während er Maike
fest und sicher in seinen Armen hält. Tief in sich spürt sie ein
Vertrauen zu ihm, eine Wärme, die sie nicht erklären kann. Als
wären sie sich schon einmal begegnet. Und so beginnt sie, von sich
zu erzählen. Von ihrer Liebe zum Meer und zu den Schiffen, von ihrem
Job, den sie gerade verloren hat, ja selbst davon, dass sie immer
noch auf der Suche ist, nach dem Einen, dem Richtigen. Mit einem
Lächeln fügt sie den Spruch ihrer Oma hinzu:
„Weg
Diern bet dörtig keen Keerl hett, de fin‘nt nie nich eenen!“
Es ist kein
Klagen, eher ein von der Seele reden. Für Maike fühlt es sich
richtig an, ihn das alles wissen zu lassen.
„Ick
heff ‘n niegen Arbeit för di. Hett mit Schäp to daun“. Dabei
sieht er sie erwartungsvoll an. Maike hält dem Blick stand, verliert
sich in der Tiefe seiner blauen Augen, in denen sich das Meer zu
spiegeln scheint, obwohl um sie herum längst schwarze Nacht ist.
„Das
hört sich spannend an. Du musst mir unbedingt mehr davon erzählen.“
Maike lacht. „Nach diesem Tanz.“ Und in Gedanken fügt sie hinzu
- wenn ich dreißig bin.
Die
Musik hat sich verändert, klingt nun lauter, fröhlicher und
verspielter. Ihre Schritte nehmen den neuen Rhythmus auf. Sie wirbeln
Arm in Arm herum, fliegen über die blank gescheuerten Decksbohlen,
springen, wilder und wilder, immer der Melodie folgend. Nebelschwaden
wabern um die GULDEN LEEW, folgen dem Tanz, gesellen sich zu ihnen
wie ein fröhlicher Reigen. Maike hört über sich die Segel im Wind
knattern. Sie fühlt sich empor gehoben, die Musik ist nun überall,
lauter, alles übertönend. Ihre Füße tanzen auf dem schmalen Grat
der Reling, sie sieht die Schaumkronen der Wellen unter sich, Gischt
schlägt ihr ins Gesicht. Doch sie ist sicher und geborgen in den
Armen des Fremden. Immer weiter nach oben zieht er sie, nun tanzen
sie auf den Rahen. Unter ihnen blinken Teile der großen weißen
Segel auf. Maike kichert. Was für ein lustiger Tanz! Sie schmeckt
die salzige Luft, der Wind zerrt und zaust an ihren Haaren, fährt
ihr in die Kleider, doch sie friert nicht. Eine angenehme Wärme geht
von diesem Mann aus, die sich auf sie überträgt. Dann spürt sie
keinen Boden mehr, sie tanzen immer weiter, durch den Nebel, nur sie
und er, Maike und ...?
Ihr fällt
ein, dass er gar nichts von sich erzählt hat, sie noch nicht einmal
seinen Namen weiß. Auch danach wird sie ihn fragen. Nach diesem
Tanz.
Leise und
fern, wie aus einer anderen Welt, hört sie eine Stimme: „Maike?
Maike, wo bist Du? Alles Gute zum Geburtstag! Alles wird ...“
Wiebkes Ruf verklingt, wird vom Nebel verschluckt. Die Arme des
Mannes halten Maike fest. Sie ist glücklich.
******************************************************
Worterklärungen
„Schiet!“
Sch
..., Mist!
Hanse
Sail
- größtes Volksfest Mecklenburg Vorpommerns. Findet jedes Jahr am
zweiten Augustwochenende in Rostock statt. Über 300 Großsegler und
unzählige kleinere Schiffe und Boote sind auf der Warnow und der
Ostsee unterwegs.
„Äwer
man bloot de Warnow rup unn rünner, mien Fru ward so fix seekrank“
„Aber
nur die Warnow rauf und runter, meine Frau wird so schnell seekrank.“
Plattdüütsch
snacken
Plattdeutsch
sprechen
„...
mien Diern“
„...
mein Mädchen“
Optimist
- Bootsklasse (kleine leichte Jolle, damit lernen Kinder Segeln)
„Weg
Diern bet dörtig keen Keerl hett, de fin‘nt nie nich eenen!“
„Welches
Mädchen bis dreißig keinen Mann hat, findet nie einen!“
Klabautermann
(von Plattdeutsch: „klabastern“ = poltern, lärmend umhergehen)
ein meist
unsichtbarer Kobold oder Schiffsgeist, vor allem in der
Segelschifffahrt.
Watt mutt,
dat mutt
Was sein muss,
muss sein
Schifferklavier
Akkordeon
„Dörw
ik bidden?“
„Darf
ich bitten?“
„Vertell
mi vun di“
„Erzähl
mir von dir!“
„Ick
heff ‘n niegen Arbeit för di. Hett mit Schäp to daun.“
„Ich
hab eine neue Arbeit für dich. Hat mit Schiffen zu tun.“
Rahe
- Querstange beim Segelschiff, Teil der Takelage